Etwa 24 Stunden noch Selbstbestimmung und der eigene Herr über meinen Körper sein. 24 Stunden, in denen ich so gut wie alles machen kann, ohne große Einschränkungen: cosstrainern, Yoga, radeln, Weinchen schlürfen, Burger futtern. Leben! Morgen ca. um 09.00 Uhr liefere ich mich wieder aus. Sobald die Antikörper in mich reingepumpt werden, überkommt mich Müdigkeit, mir wird schwindelig und kalt. Mein Kopf hämmert und ich fühle mich wieder krank. Krank unter Kranken. Vor 10 Jahren hat es mir nicht so viel ausgemacht, diese kranken Geschöpfe vor mir und neben mir zu sehen. Ich habe sie als „Teammitglieder“ betrachtet. Alle für einen, einer für alle. Morgen würde ich am liebsten vor ihnen weglaufen. Diese Trostlosigkeit ist kaum zu ertragen. In unserer neuen Lieblingsserie (der absolute emotionale Kracher) „New Amsterdam“ sitzen die Chemopatienten zusammen, spielen Karten und reißen Witze über den Tod. Eine munter-heitere Krebsgesellschaft. Das gefällt mir! Unmögliche Vorstellung für morgen. Alle wollen ihre Ruhe haben. Ich hasse das Kranksein langsam regelrecht. Und ich habe doch noch so einen langen Weg vor mit. Mir geht es ähnlich wie Nicole: Geduld ist meine größte Schwäche. Dabei ist sie so wichtig für den Heilungsprozess. Diese ständigen Aufs und Abs müssen erstmal weggesteckt werden. Nicht so einfach. Aber wir sind nicht alleine. Es gibt so viele liebe Menschen, die uns tatkräftig unterstützen. Die nächsten drei Tage fahren mich Wörther Kollegen*innen nach Heidelberg. Davon sind zwei bereits im Ruhestand. Ein gutes Gefühl, viele Leute an der Seite zu haben, wenn man sie braucht. Dafür sind wir sehr dankbar. Man muss aber natürlich auch dafür kämpfen, nicht vergessen zu werden. Das musste ich erst lernen. Es gehört zum Menschsein dazu, dass man sich nicht jeden Tag kümmern und Anteilnahme zeigen kann. Dafür sind wir nicht konzipiert. Die Betroffenen müssen laut und forsch sein, um sich Gehör zu verschaffen. Ich habe zwar keine Geduld, aber dafür kann ich nach Hilfe und Aufmerksamkeit schreien, wenn’s notwendig ist. Heute lebe ich! Die nächsten Tage werden wieder ein Kampf sein, Leben zurück zu gewinnen. Was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass die Liebe nicht auf der Strecke bleibt. Liebe zu zeigen und sie zu empfinden, das bleibt, auch die nächsten Tage das Motto. Ich denke, eine Situation wird erst dann schlimm, wenn die Liebe nicht mehr da ist oder sie nicht mehr gefühlt werden kann. Ein versendeter Kuss von Anna, eine innige motivierende Umarmung mit Nicole und ein gegenseitiges Abklatschen mit Freunden sind genauso wichtig wie die Medikamente, die das Lymphom in Schach halten sollen. Zu Beginn meiner Erkrankung war ich von einigen Menschen sehr enttäuscht. Diese Enttäuschung hat mich bestimmt etwas ungerecht werden lassen. Wenn mich meine Emotionen übermannen, werde ich schnell zu hart in meinem Urteil. Im täglichen Menschsein sind wir alle mehr oder weniger irgendwann überfordert. Wir können nur zu einem bestimmten Prozentsatz Mitgefühl äußern. Wir haben nicht genug Zeit und Muße zur Verfügung. Heute bin ich nicht mehr enttäuscht, weil ich doch von vielen Menschen getragen, umsorgt, behütet werde. Selbst mein Kumpel Icke ist jetzt viel nachsichtiger im Umgang mit mir. Wir existieren nebeneinander her, ohne für größere Störungen zu sorgen. Manchmal könnte man tatsächlich meinen, dass Icke seinen Frieden mit mir geschlossen hat.
Bissel Normalität bevor ich wieder flach liege. Am letzten Tag meiner Erholungsphase hab ich nochmal richtig Gas gegeben. Haushalt, Garten, Yoga, Crosstrainer, Schorleausflug mit Fahrrad nach Hainfeld. Mehr Normalität geht nicht!
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