Die Hitparade meines Lebens

Ich kann mich noch recht gut erinnern. Es war nicht Rheinland-Pfalz, sondern Nürtingen und Schwäbisch Gmünd. Sie SWR1-Hitparade hieß auch nicht TOP 1000, sondern TOP 1000 X und lief noch beim damaligen SDR. Ich war um die 20 und engagierte mich in der Evangelischen Kirche. Ich machte Urlaub bei einem Freund, einen angehenden Diakon. Ein Wahnsinnstyp. Er sah aus wie ein Ritter der Tafelrunde, stets mit einer Lederweste gekleidet. Ein Bud Spencer mit wirren langen Locken. Verdammte verkümmerte Gehirnzellen, mir fällt sein Name nicht mehr ein! Eine Schande! Es war damals ein sehr wichtiger Mensch für mich. Wir sprachen über Gott und die Welt und warfen uns kongenial die humoristischen Bälle hin und her. Bei der Apfelernte in Nürtingen und beim Wandermarathon in Schwäbisch Gmünd lachten, schwitzten, kämpften wir zusammen als würden wir uns schon 100 Jahre kennen - und summten voller Inbrunst die Hitparaden-Songs der TOP 1000 X mit. DIE Kult-Hitparade. Mathias Holtmann DER Kultmoderator. Die Hitparade lief bei uns Rund um die Uhr. Jeder Apfelbaum der Region wurde mit Beatles, Rolling Stones, Led Zeppelin, Queen oder Hildegard Knef beschallt. Ich glaube, wie in den vielen darauffolgenden Jahren auch (nur von Bohemian Rhapsodie hin und wieder abgelöst) wurde Stairway to Heaven die Nr.1. Sicherlich auch von mir unter die Top 10 gewählt. Auch in Sachen Musikgeschmack war der diakonische Grizzlybär und ich auf einer Wellenlänge. Na ja, fast! Er eher der Beatles-Jünger, ich dafür der Rolling-Stones-Fan. 2 ältere Brüder hinterlassen dann doch ihre Spuren irgendwo. Wenn’s auch nur musikalisch ist. (Sagenhaft: Und was kommt gerade? Platz 270, you can’t allways what you want, thanks Brothers!!!) Die ehrenamtliche Arbeit in der Kirche gab mir damals Halt und Zuversicht. Tolle interessante Menschen und Vorbilder bin ich da begegnet. Zuerst war ich als Leiter von Jugendfreizeiten unterwegs (Schweden, Dänemark, Wales), um dann noch eine schönere Zeit im Weilimdorfer Waldheim als Betreuer erleben zu dürfen. Auch hier waren die TOP 1000 wieder häufig für den musikalischen Hintergrund verantwortlich. Leaving on the Jetplane, Take me Home oder Über den Wolken Standards am Lagerfeuer. Ich bin fest der Überzeugung, dass in dieser Phase der Grundstein dafür gelegt wurde, dass ich etwas Pädagogisch-Psychologisches machen werde. Zuerst hatte ich ja die Idee, Kinderpsychologe zu werden. Aber die Bürokratie wusste dies zu verhindern. Es lebe die Bürokratie! Ein Wartesemester hat mir damals gefehlt. Über ein abgebrochenes Magisterstudium der Bildungsökonomie wurde es dann endgültig das Lehramt an Realschulen: lukrativ, sicher, übersichtlich, vorhersehend. Und Pädagogisch-Psychologisches war ja auch mit dabei. Jesus ist mir heute immer noch wichtig, auch die Kirche als Begegnungs- und Meditationsraum gibt mir innere Ruhe. Laudato si o-mio signore! Als Ersatz besuche ich Konzerte, am liebsten die, in denen Feuerzeuge, äh jetzt natürlich blau leuchtende Handys,  in die Höhe gehalten werden und im Chor mitgesungen wird. Emotionales in der Gemeinschaft zu erleben, hat mir immer schon sehr viel gegeben. Gott und die Kirche als verknöcherte Institution - ich weiß nicht, bin ich nicht so überzeugt davon. Deshalb bin ich schließlich aus der Kirche ausgetreten. Nicht wegen der Steuer. Das Gesparte gebe ich für andere soziale Projekte aus. Seit ich ausgetreten bin, fühle ich mich seltsamerweise nicht mehr richtig GANZ, man könnte auch sagen, dass mich mein religiöses Gewissen drückt. Habe immer das Gefühl, der vernagelte Sohn Gottes blickt mürrisch auf mich hinab. Wir jungen Menschen von damals waren häufig mit der Kirche verbandelt. Meine Stuttgart-Rot-Clique waren allesamt Messdiener gewesen. Die katholische Dorfjugend traf sich fast jeden Abend in der eigens dafür eingerichteten Kaju-Bar, im Keller des Pfarrhauses. Über der Theke hing eine riesige VFB-Stuttgart-Fahne und an der Wand klebte ein Mannschaftsfoto - mit den Förster-Brüdern und Kalle Allgöwer. Auch im Club der Toten Katholiken hörte man regelmäßig die TOP 1000. Der damalige katholische Pfarrer ein enthusiastischer VFB-FAN und ausnahmsweise kein Pädophiler, sang bei Songs von Bob Dylan und Joan Beaz am lautesten mit. Auch er hat mir imponiert. Mann, Mann, Mann, warum vergesse ich bloß die Namen von Menschen, die mir wichtig waren! Krieg ich die Namen von meiner Clique noch zu zusammen? Michael U(h)lmann, Thomas Kraus, Thomas, Schober, Hauzi (Hauzinger), Vorname weiß ich nicht mehr. Tatsächlich, keine schlechte Ausbeute. Leider findet man sie nicht im Netz. Die Namen zu gewöhnlich. Was machen sie alle heute? Was würden sie heute darüber denken, dass der Schnur Lehrer und Kaiserslautern- und Freiburg-Fan geworden ist? So viele Stunden beim Kicken, beim Trinken, in der Disco, im Stadion haben wir gemeinsam verbracht - nix davon ist mehr übrig geblieben, außer ein paar wenigen Erinnerungen. Es scheint so, als würde das Leben immer nur aus eben diesen wenigen Erinnerungen bestehen. Wie schön wäre es, mit den alten Haudegen bei einem Kolben Stuttgarter Hofbräu der aktuellen SWR1-Hitparade zu lauschen oder gemeinsam dem VFB zuzujubeln. 


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