Lust auf Schule (I)

Lust auf Schule kommt mir wieder, wenn ich aktuelle Themen in den Medien verfolge. Meine Güte könnte man da aus dem Vollen schöpfen. Wäre das spannend und unterhaltsam mit den Schülern in diesen bewegenden Zeiten zu arbeiten. Alles andere könnte mir gestohlen bleiben: langweilige anstrengende Konferenzen, COVID-Nachverfolgung, Lehrer-Coaching, Listenerstellung, Statistik, Aufnahmegespräche. Grrrrrr…Aber mit den Schülern über das Impf-Outing zu diskutieren. Argumentieren üben. Der Fragestellung nachzugehen, was Krieg, Flucht, Vertreibung und Humanität bedeutet. Briefe an die Flutopfer verfassen lassen, um Empathie zu schulen.  Die unfassbaren Lebensgeschichten der Paralympic-Sportler*innen zu betrachten, um daraus Motivation für das eigene Leben zu gewinnen. Spendenaktionen zu organisieren. Co2-neutrale Schokolade, von einem niederländischem Start-up, zu 100 Prozent nachhaltig produziert, präsentieren und beurteilen zu lassen. Das wäre pädagogisch überaus prickelnd.  Ja, ich muss sagen, das alles fehlt mir. Korrekturen weniger. Notengebung hasse ich. Die vernichtet die geistige Kreativität. Hierfür bin ich im falschen Schulsystem unterwegs. gewesen. Unser Bildungssystem ist voll von Angsthasen und Unkreativen. Es werden immer noch zu viele Frage-Antwort-Tests geschrieben. Gut auswendig lernen können, bringt Erfolg! Man kann eine 1 haben, aber von Tuten und Blasen keine Ahnung. Die Schüler*innen müssen sich in einer ständigen Qizzshow bewähren. 85 Prozent des Gelernten lösen sich so  

in Schall und Rauch auf, wie Selbsterfahrung und Studien zeigen. Erlebtes Lernen ist dagegen nachhaltiges Lernen. Wir wissen das, verändern aber kaum etwas. Zu heiß! Im Prinzip werden die Schüler*innen doch meistens immer noch wie vor 50 Jahren unterrichtet, genauso wie wir selbst unterrichtet worden sind, nur mit viel mehr digitalem Schnickschnack. Ein Muss, ich sehe das ja auch ein. Aber tatsächlich besser? Für diese Erkenntnisse muss man nicht unbedingt Richard David Precht oder Harald Lesch gelesen haben. Wir wissen, dass soziale Kompetenz, Empathie, Teamfähigkeit mehr denn je notwendig sind und sein werden, lehren diese Skills aber nicht in der Breite und sind in Sachen Bildung nicht nachhaltig genug.  Corona hat das leider noch verstärkt. Obwohl die Kids in der Pandemie wahrscheinlich so viel gelernt haben wie niemals zuvor. Zum Beispiel, dass das eigene Handeln Konsequenzen für andere nach sich zieht. Lernen am Leben sozusagen. Wir alle sind dafür verantwortlich, ob in Zukunft verstärkt die rechtsextremistische Grauzone gewählt oder an verrückte Verschwörungstheorien geglaubt werden wird. 

Kinder zum Staunen, zum Nachdenken, zur Meinungsbildung, zum provoziertem Widerspruch zu bringen, ist das Schönste am Lehrerjob. Was tun wir alle denn in den letzten 1,5 Jahren? Wir bilden uns eine Meinung über alles und jeden. Viel zu oft  mit wenig stichhaltigen Argumenten. DAS muss man KÖNNEN. Warum gibt es nicht flächendeckend Debattierclubs an jeder Schule? Ach wie gern würde ich den Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl mit den Schülern durchführen. Alle dort abgefragten Thesen Schritt für Schritt durchgehen. Gar nicht so einfach, sich in allen Themenbereichen eine Meinung bilden zu können. Eine fundierte Allgemeinbildung ist da gefragt. Ich kann diese Internetseite nur jedem empfehlen, nicht nur Schülern. 

Ich bin gerne Lehrer gewesen. Ich dachte als Stufenleiter kann ich etwas bewegen. Wie naiv! Leider bestand meine Hauptaufgabe nur darin, das alte System elegant am Laufen zu halten. Den Ärger und Frust so klein zu halten wie möglich. Wie öde! Ach Mensch,  man könnte so viele schöne Projekte ins Leben rufen, aber dafür braucht es Mut, Kampf- und Teamgeist und Engagement. Das spröde Beamtensystem tötet das alles im Laufe der Zeit ab. Warum soll ich mir auch den Arsch aufreißen, wenn ich für das Minimum die gleiche gute Kohle bekomme. Das würde dem Bild des homo öconomicus völlig widersprechen. Wer geht schon über Grenzen, wenn er es nicht muss - und nicht nach Leistung bezahlt wird. Als Junglehrer*in möchte man noch die Welt verändern, um dann bald vom System auf ein Häufchen Elend zurechtgestutzt zu werden. Ja, das ist eine gewaltige negative Sicht auf das Bildungssystem.  Ich gebe es zu. Vielleicht lässt mich meine unheilbarer Hodgkin und Icke da etwas zu pessimistisch in die Zukunft blicken. Mache ich es mir leicht: Mein Lymphom ist schuld! Aber so habe ich das im Laufe der letzten 18 Jahre eben alles wahrgenommen, „erlebt“. Es gibt kleine innovative Inseln, aber sie sind noch viel zu wenig am Start, weil zu anstrengend. Es braucht Innovation von allen, um etwas zu verändern, nicht nur von wenigen. Nicht nur Eltern und Schüler*innen sind konfliktscheu, unflexibel, uninspiriert, die Pauker“innen auch. Schlage Buch Seite 212 auf und macht die Aufgaben 1-10. 11- 13 ist Hausaufgabe. Das ist vielerorts immer noch Standardprogramn. Alle fühlen sich damit am sichersten. 

Wenn ich König von Deutschland wäre und volle Goldthaler-Speicher hätte, würde ich das Bildungssystem sowas von auf den Kopf stellen. Mit dem Bildungsproblem müsste im Prinzip genauso radikal verfahren werden wie mit dem Pflege-Desaster. Warum klatschen alle für die Pflegekräfte, aber niemand für Lehrer*innen? Beides muss uns zu denken geben. 

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