Die Zeit eines Kranken - Fluch oder Segen

Uiii, heut bin ich aber in Verzug! Passt ja zum Thema. 


„Die Zeit ist das größte Geheimnis der Physik“ (Stephen Hawking). Hawking beschäftigte sich viele Jahre mit Schwarzen Löchern. Ich bin auch in so einem Loch gefangen. aber es ist bunt, nicht schwarz. Ich werde auch hier im Strudel der Gravitation mitgerissen. Nichts hat mehr Gültigkeit. Kein Licht, keine Materie. Die physikalischen Kräfte sind aufgehoben. Warum auch, es ist ja das NICHTS. Ein farbenfrohes Nichts. Nein, ich habe keine Drogen eingenommen. Nur einen Schluck Rosé. 

Die Zeit spielte in meinem Leben immer eine wichtige Rolle. Jetzt ist sie plötzlich unbedeutend geworden. Die innere Zeitachse ist durch die Diagnose verloren gegangen. Wie war es gesund? Der Körper und das geführte Leben hat sich der Zeit angepasst. 05.30 Uhr aufstehen, 06.00 Uhr Stuhlgang. 07.00 Uhr Schule,  der Beruf in 45 Minuten-Einheiten. 16.00 Uhr Heimfahrt.  16.30 Uhr Mittagskaffee. 18.00 Uhr kochen und essen. 20.00 Uhr Tagesschau. 22.00 Uhr Bettzeit. Tag für Tag im Rhythmus der Zeit. Überall Uhren, die einen den Takt des Alltags überprüfen lassen. Sogar im Schlafzimmer, grell orange an die Wand projiziert. Krankheit bringt diesen Lebenstakt mindestens aus dem Gleichgewicht. Wenn der Rahmen „Arbeitsalltag“ nicht mehr vorhanden ist,  man permanent 24 Stunden zur freien Verfügung hat, ist der Rhythmus nicht mehr ganz so bio. Wohin mit der Zeit? Wo ist sie überhaupt? Vorher musste man sich nicht mit der Suche nach der Zeit quälen. Sie war als guter verständnisvoller Begleiter immer da. Ganz automatisch. Etwas kurz angebunden - ja -,doch die Gewohnheit ließ die Zeit wenigstens etwas ruhiger in die Zukunft blicken. Der Wegfall des Zeitdrucks überfordert und befreit zugleich. Keine Fußfesseln mehr. Man schwebt frei im Zeituniversum. Es ist nicht mehr wichtig, wann man mit etwas fertig wird. Ich kann mich um eine Zimmerpflanze so lange kümmern bis mir das selbst pathologisch vorkommt. Ich kann auf der Couch vor mich hinsitzen, im Nichts zufrieden sein und ins Nichts starren, ohne denken zu müssen, nutzlos meine Zeit verstreichen zu lassen. 

Zeit und Verpflichtung sind eng miteinander verwoben. Als Krebskranker mit viel Zeit für sich werden Verpflichtungen immer weniger. Die unscheinbarste stressfreiste Verpflichtung lässt man schleifen, weil man es darf und kann. Man muss nicht zurückschreiben oder anrufen. Ich könnte den ganzen Tag mit einem verranzten T-Shirt rumrennen mit dem Aufdruck „Ich muss jetzt gar nichts mehr, leckt mich!“ Das ist erschreckend. So viel Glück ist kaum auszuhalten. Wer war man vorher? Ein Sklave des Zeitmonsters, das die Welt beherrschen möchte, mich zu seinem Gefangenen und Komplizen gemacht hat. Warum haben viele Menschen, die finanziell keine Existenzängste auszuhalten hatten,  tatsächlich den staatlich auferlegten Lockdown genossen? Man hatte urplötzlich unendlich viel von dieser stets so knappen Ressource - wunderbar! Keine Termine! Keine Verpflichtungen! Kein Druck! Pure Freiheit!  Es gibt auch Menschen, die können mit dieser neu gewonnenen Freiheit überhaupt nichts anfangen. Mit sich nichts anfangen. Wissen nicht ohne Vorgabe, wie sie die Zeit nutzen können. Werden im ständigen Disput mit sich selbst nervös und reizbar. Das Zeitmonster hat hier bereits ganze Arbeit geleistet. Innerhalb des Themas Glück, fragte mich mal eine Schülerin: Herr Schnur, was würde sie noch glücklicher machen? Ich antwortete: mehr Zeit für mich zu haben. Ich hatte ein tolles Leben; der einzige Makel: Ich hatte zu wenig Zeit für die Dinge, die mir wirklich wichtig sind. Jetzt sitzt mir Herrmann Tod im Nacken und ich führe noch ein tolleres Leben. Ein Problem hab ich dennoch. Das auch schon vorher rudimentär da war, jetzt aber viel größer ist: das Problem der AUSWAHL. Was mache ich mit der gewonnen Zeit? Es gibt so viele Dinge, die mir Freude bereiten. Mit was fange ich zuerst an? Was kommt als nächstes? Wenn ich das eine mit Herzblut tue, denke ich schon ans nächste. Zu viele Interessen und dafür Zeit zu haben, ist wie ein Fluch! Reicht sie aus?  Was ist, wenn es doch nur noch ein paar Monate sind oder ein Jahr? Werde ich dann alles aufgeschrieben haben, was mir wichtig war? Wird man dann endlich wissen, wer ich war. Werde ich eine neue Sprache, das Zeichnen, ein Computerprogramm zufriedenstellend beherrscht haben? Werde ich mich mit einem zerstrittenen Freund versöhnt haben? Werde ich alle mir wichtigen Bücher und Platten gelesen und gehört haben?  Werde Ich mit Anna ausreichend Zeit verbracht haben? Konnte ich Nicole so glücklich machen, wie sie es verdiente? Werde ich zufrieden gestorben sein? Viel Zeit und doch keine? Verrückt! Auch ohne einen Icke im Kopf müsste man sich da eine ordentliche Portion Psychopharmaka einverleiben.  

Nicole und Ich haben in den letzten Wochen morgens ein zweites Ritual entwickelt. Nicht geplant, hat sich so ergeben. Das eine Ritual ist ja das Kaffeeding. Nun lese ich ihr immer meinen neuen Blog-Eintrag vor. Es ist spannend für mich, jemand mein Geschreibsel laut vorzulesen. Das eine oder andere kann ich dadurch noch dem Sprachfluss anpassen. Es ist auch immer schön, wenn ich ein Auflachen oder ein Seufzer neben mir höre. Dann weiß ich, dass mein Text Wirkung zeigt. Auch wenn man mit dem Inhalt nicht immer konform geht. Morgens nach dem Aufwachen, mit dem Kaffee in der Hand, diskutieren wir, was das Zeitmonster mit uns macht. Ein interessanter Aspekt wirft Nicole dabei ein: Das Gefühl, die Kontrolle über seine Zeit zu haben, reicht schon aus, zufriedener im Leben zu sein. Auch wenn man trotzdem nach den alten Gewohnheiten lebt. Man steht jeden Morgen um 06.00 Uhr auf, obwohl man bis 10.00 Uhr liegen bleiben könnte. Nicole mag solche feste Strukturen, ich bin da eher flexibler unterwegs. Ich merke aber, dass mir ein fester Rahmen gut tut. Alleine würde ich sie niemals so stringent einhalten. Icke würde da eindeutig die Oberhand gewinnen.

Ab Morgen hat das Zeitmonster wieder Gewalt über Nicole: Die Reha beginnt. Alles wird durchgetaktet sein. Ich werde dann das Zeitmonster ein wenig mehr auf Abstand halten können. Ich bin sehr gespannt, welche Interessen mir morgen über den Weg laufen werden. 


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