Es ist immer schwierig für mich, welches Thema ich denn jetzt für einen Eintrag heranziehe. Die Auswahl ist riesig. So ein Tag wie gestern ist natürlich prädestiniert für einen Text mit dem Titel Schulanfang. Es passiert immer so viel und meist alles gleichzeitig. Immer wieder neue Eindrücke und Erkenntnisse. Die ganze Bandbreite des menschlichen Daseins.
Nici hat‘s jetzt auch noch auf den Ohren. Bald läuft sie mir den Rang beim Grad der Schwerbehinderung ab. Nebenhöhlen sind immer zu, Nase tropft, komisches Zeug in den Gehörgängen, die auf einmal zuploppen. Ich glaube, wir könnten gerade locker bei den Paralympics mitmachen. Schatz, wo war nochmal mein Schlüssel? Hä, welche Schüssel? So geht es denn ganzen lieben Tag. Wir haben auch schon ein wenig
von-den-Lippen-lesen geübt. Für später einmal. Ich stehe dann vor ihr und bewege ziemlich übertrieben meinen Mund und sage: Naaaa, meiiiinnn geiiiileeees Mäuuuuuscheeeen, hast duuuu schon diiiiiie Spüüüüülmaaaaschiiiineee ausgeeeeräuuuumt? Sie dann: Das hast du jetzt nicht wirklich gesagt, oder? Ich: Nö! Ich habe gesagt: Wir haben ein geiles Häuschen und ich habe von einer neuen Kaffeemaschine geträumt. Apropos Kaffeemaschine. Ist es eigentlich dekadent, sich fürs Schlafzimmer eine zweite Kaffeemaschine anzuschaffen? Das wäre doch mal eine Gewissensfrage für die Süddeutsche. Mit Zeitschaltuhr versteht sich. Somit müssten wir morgens nicht eine viertel Stunde damit verbringen, wer jetzt den ersten Kaffee ans Bett holt. Wir ziehen dabei alle Register der Überzeugungskunst, um schließlich als Gewinner genüsslich und freudestrahlend im Bett liegen bleiben zu dürfen. Alles was ich als Versicherungskaufmann im Außendienst in Bezug auf das Führen von Verkaufsgesprächen gelernt habe, kommt da um 07.00 Uhr morgens zur Anwendung. Ich gebe es zu, manchmal prostituiere ich mich sogar, nur um der Gefahr zu entgehen, auf der rutschigen Treppe zu stürzen und mir meinen letzten verbliebenen heiligen Hoden zu verbrühen.
Wäre es nicht herrlich stattdessen mit Kaffeeduft und einem blubberten Esspresso-Hightechgerät vor Ort geweckt zu werden. Mit einer eingebauten Alexa. Alexa verändere bitte den Mahlgrad auf 4, Alexa schäume die Milch auf, Alexa kippe noch ein klein wenig mehr Grappa in den Kaff, Alexa schneide mir die Nasenhaare und backe uns Croissants. Der Verlierer muss dann nicht zwei Stockwerke Frühsport betreiben, sondern in 50 Zentimeter Luftlinie die Kaffeebecher einfach nur vollföhnen. Man muss doch Verdammt noch eins vorbereitet sein, wenn die zweite Bandscheibe und das dritte IS-Gelenk den Geist aufgeben. Behinderte Menschen haben auch ein Recht auf Kaffee! Leider konnte ich Nici noch nicht wirklich mit meinen Argumenten überzeugen.
Aber wenn ich es so recht bedenke, wollte ich ja mal wieder über Kommunikation und das Schweigen sprechen. Alexa, schreibe Alex eine Email und drücke ihm mein Mitgefühl aus. Wäre interessant, was sich die Hobbypsychologin da einfallen lassen würde. Bei zu viel Alex in einem Satz, dreht sie bestimmt komplett durch. Wie im richtigen Leben. Endlich mit einem Kaffee in der Hand, den sich der arme krebskranke Ehemann mit größter Mühe erkämpfen musste (Mrs. Bandscheibe zeigte kein Erbarmen), diskutierten wir mal wieder darüber, wie unterschiedlich die Menschen auf unsere Situation reagieren. Verstehen tue ich alles, und akzeptieren auch meist. Einfach so ohne Kommentar und Analyse hinnehmen, das ist für einen Schnur echt schwer. Da schreibt eine Kollegin, sie hätte jetzt erst mitbekommen, dass ich krankheitsbedingt fehle. What?! Das lässt mich an meine nachhaltige Sichtbarkeit und Wirkung auf Menschen zweifeln. Bin ich tatsächlich so unscheinbar? Muss man wohl in Indien die Erleuchtung gesucht haben und den letzten Monaten so gar nichts mitbekommen haben. Eine andere Kollegin, die ich sehr schätze, schreibt eine tolle offenherzige Nachricht. Die aber auch furchtbar traurig ist, weil ihre Mama ebenfalls ein Rezidiv entwickelt hat. Sie berichtet sehr emotional darüber und entschuldigt sich dafür, sich noch nicht bei mir gemeldet zu haben. Sie sei gerade eine Heulsuse und wollte mir das nicht zumuten. Sie sei aber jeden Tag mit mir in Kommunikation getreten, in dem sie meine Blog-Eintrag verfolgte. Jeden Tag hätte sie an mich gedacht. Mich hat die ehrliche Mail sehr berührt. Das ist auf den ersten Blick wunderschön und ich darf dankbar über diese späten Zeilen sein. Aber eigentlich ist das auch ziemlich irre. Und ich bin mir sicher, meine Kollegin steht exemplarisch für viele. Ich stehe der Esoterik offen gegenüber, wenn das Phänomen des Gedankenlesens zwischen Nicole und mir wieder angesagt ist. Wir könnten mit unserer Gabe glatt im Varieté auftreten. Aber dass ich Gedanken aus mehreren Kilometern Entfernung spüre und in für mich positive Energie umwandle, führt dann doch ein wenig zu weit. Ich kann das Denken wie das Schweigen nicht spüren, und es bringt auch nichts. Was mir bringt? Herzliche ehrliche „spürbare“ Anteilnahme und Angebote - entweder des Treffens, des Schreibens, des Schachspielens, des Redens, der Hilfe. Wenn man schweigt, passiert nichts. Das ist wahnsinnig schade! Ein anderer Kollege hat ebenfalls nett geschrieben. Auch er hat sich quasi entschuldigt. Da bekommt man als Krebspatient fast ein schlechtes Gewissen. Ich verstehe seinen Stress und akzeptiere ihn noch mehr. Alles gut! Ich habe ihn weiterhin lieb. Ich habe hier schon mehrmals betont, dass wir alle mit uns selbst beschäftigt sind. Das der Alltag uns auffrisst. Ganz normal. Das Schlimmste sind aber Ankündigungen und das nicht machen. Das ist echt doof! Warum haben diese Menschen mir jetzt Nachrichten zukommen lassen? Weil ich ihnen schriftlich ganz offiziell einen guten Start ins neue Schuljahr gewünscht habe. Die Gewissheit, dass ich für einige Menschen nicht wichtig bin, stecke ich gut weg. Das bekommt mein Selbstbewusstsein verarbeitet. Mit Nicole habe ich den Begriff des „Inner Circle“ geprägt. Das sind die Leute, die alles liegen und stehen lassen für einen, die von selbst kommen und fragen, die ihre Hilfe anbieten, ohne dass wir darum bitten müssen. Regelmäßig! Dieser Inner Circle ist in der Regel recht klein. Das ist nichts Unnormales. Manche können keinen einzigen Menschen für ihren Inner Circle benennen. Bei mir ist dieser Innere Kreis sogar recht groß. Dafür bin ich unendlich dankbar. Ich kann immer nur rufen: Schweigt nicht, kommt und macht einfach. Ich bin da. Ich stehe jederzeit zur Verfügung. Bin ein guter Gesprächspartner, wenn es darauf ankommt. Man kann mich mit allem erfreuen. Ich lebe, gut, und habe vor, noch eine Zeitlang auf dieser chaotischen Erde zu verweilen. Ich hinke manchmal wie Quasimodo und mein Anblick in Jogging-Hosen ist verheerend. Da muss man dann durch. Ich trinke sogar gelegentlich Alkohol. Leider nur in homöopathischen Dosen. Der Weinkeller ist voll. Für gute Stimmung ist also gesorgt. Man muss keine Angst vor meinem Krebs oder mir haben. Man muss keine Angst vor Emotionen und Wahrheit haben. Einfach sein, aber eben sein. Und wenn man nicht vorhanden sein will, dann ist das auch okay. Es kann dann halt nichts entstehen. Ich überlebe vielleicht nicht mein Hodgkin, aber wenigstens das. Es wird oft meine mentale Stärke hervorgehoben. Dass mein Geist so stark ist, dass ich das alles schon mit Erfolg bewältigen werde. Das ist nett gemeint. Ja, mein Geist ist in einigen Fällen richtig der Kracher, aber in einigen auch nicht. Diese mentale Kraft ist nicht unendlich und viele Jahre sehr hart erarbeitet worden. Man befreit SICH SELBST durch solch einen Satz: Ich muss weniger traurig oder schockiert sein. Ich bläue MIR damit Hoffnung ein: Das Hirn vom Schnur wird’s bestimmt richten. Ich weiß nicht, ob es das wird. Ich habe wie alle anderen Angst, bin traurig, habe Zweifel, bin unsicher. Ich versuche mir nur mühevoll meine Würde dabei zu erhalten. Nicht komplett auszuflippen. Das geht niemals alleine. Da draußen sind so viele Menschen mit Schmerz und Leid. Sie haben oft gar keine Stimme, so wie ich. Sie können sich nicht so ohne Weiteres in der Krise bemerkbar machen. Ich kann das. Ich habe keine Skrupel. Ich erzwinge mir mein Wohlbefinden, wenn es sein muss. Seltsamerweise stehen dann viele auch auf der Matte, wenn ich sie direkt um Hilfe bitte und packen mit an. Sie brauchen nur einen kleinen Schubs! Nur, von sich aus kommt man nicht darauf, dass der andere doch etwas brauchen könnte. Man muss doch auch mal selbst sehen, wann der Müll vielleicht entsorgt werden muss. Immer darauf hinweisen zu müssen, ist total anstrengend - oder man macht’s eben dann immer selbst und hält die Klappe!
In einer neuen Krankenhausserie (New Amsterdam, Yippiiie, wir haben etwas zur Überbrückung gefunden), entdeckt der Ärztliche Direktor auf dem Weg in die Klinik eine Obdachlose. Sie hat einen schlimmen entzündeten offenen Fuß. Er legt fünf Dollar in ihr Kästchen und bietet ihr eine Behandlung in seiner Klinik an. Sie hat kein Vertrauen in das System, in Menschen, und verweigert. In einer Pause von dem Mörderstress als Klinikchef geht Max wieder zu ihr - diesmal mit Mullbinden und Tabletten. Er gewinnt behutsam das Vertrauen der Leid geplagten Frau zurück. Das, was Max leistet, ist natürlich heroisch. Kaum in den Otto-Normal-Alltag zu integrieren. Trotzdem. Ein wenig mehr Max würde uns alle nicht schaden.
Wir haben einen Lauf!
Nicis E-Bike ist da! Das ging schneller als gedacht. Sogar in gewünschter Farbe. Den halben Vormittag im Fahrradladen verbracht. Wir sind an einem Fahrradprofessor geraten. Er hat jeden Einstellungswinkel und Mechanismus plastisch vorgeführt. Das Aussuchen des Helmes gestaltete sich wie eine Schatzsuche. Warum werden Fahrradhelme für Frauen nur so fucking bunt hergestellt? Wenn man doch einen schwarzen will. Warum ist einer Frau die Farbe bei einem Schutzhelm generell wichtig? Das fragt sich der ungeduldige Ehemann.
Ich denke, wir werden bald das innovativste Fahrradschloss der ganzen Südpfalz besitzen. Nicht mal ein Experte von Galileo hat es geknackt bekommen: ein Textilschloss. Leicht und flexibel. Geiles Ding.
Wir haben heute sogar etwas gelernt: Setze dein Tageslimit bei deinem Konto hoch, bevor du ein ein teures E-Bike mit Karte zahlen möchtest.
Meine Blutwerte sind sowas von gut.
Phänomenal wie sie sich in so kurzer Zeit erholen. I am Hulk!
Nach der Reha gibts für Nici nochmal ein paar freie Tage. Erholung von der Erholung sozusagen. Somit wird’s bestimmt November bis sie wieder voll im beruflichen Saft steht.
Vielleicht bekommen wir sogar eine Haushaltshilfe gestellt. Wir müssten sie nur anfordern. Ich hätte da schon ein paar Ideen!
So ein Lauf muss doch anständig gefeiert werden!
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