Unser erster Schultag

Leistungen "fast gut“ - tja, viel hat sich da nicht geändert! :-) 

 

Manno, Nici hat die viel coolere Schultüte bekommen - und war definitiv glücklicher als ich! 

 



Es ist krass, aber ich kann mich noch sehr gut an meinen ersten Schultag erinnern. Ein schrecklicher Tag. Ich wollte nicht in die Schule. Ich war so viele Kinder nicht gewohnt; ich war diese Umgebung nicht gewohnt; und ich war es nicht gewohnt, dass ich nicht Rund um die Uhr betreut wurde. Ich war nicht im Kindergarten. So hat mich das seltsame Schulding ziemlich mitgenommen. Ich kann die Frage, warum meine Eltern keinen Kindergarten für mich vorgesehen hatten nicht beantworten. Ich weiß auch nicht, ob sie generell gegen eine derartige Betreuung waren. Ich habe es versäumt nachzufragen -  oder die Antworten vergessen. Die Klassenlehrerin, die ich damals für die ersten zwei Klassen bekam, war ein Goldschatz. Das machte einiges wett. Auch Meike M., meine erste große (einseitige) Liebe, nahm mir ein wenig die Angst vor der Zukunft, machte sie sogar aufregend. Sie saß eine Reihe hinter mir. Nein, sie saß nicht, sie residierte. Sie war eine Königin. Eine Prinzessin war für sie zu wenig. Sie hatte langes schwarz-glänzendes bis zum Boden reichendes Haar, und wenn sie kicherte, hatte sie immer einen leichten Schluckauf. Ich glaube, ich hatte mich damals einfach in diesen süßen Hickser verliebt. Sie roch wie eine Frühlingsblumenwiese. Ich musste ständig meine Nase in ihre Richtung strecken. Ich schätze mal sie tuschelte mit ihren Freundinnen über mich: Sagt mal Mädels, der Typ, der seinen Zinken immer in unsere Richtung dreht, hat doch ne Vollmeise oder? 

Ich war ein zartes Kind. Eher ein Mädchen als ein Junge. Nun war ich von Rabauken und Raubkatzen umzingelt. Wenn ich im Kindergarten gewesen wäre, hätte man mich bestimmt auch so beschreiben dürfen: laut, unberechenbar, vulgär. Aber eine Sache war am schlimmsten: Es war niemand da, der mir meine vielen Fragen beantwortete. Warum z.B. Havi mit seinem komischen Akzent ständig dazwischen quatschte, wenn Frau Ö. was erzählte. Warum Petra mit ihrem spitzen Bleistift ein Loch in ihre Backe bohrte. Warum Christoph nicht wusste, was 7 + 3 ist und sich ständig vom Stuhl schmiss. Ich wollte nicht nerven, nicht unnötig aufhalten. Kinder haben stets viele Fragen im Kopf, das machen sich die Erwachsenen leider viel zu wenig bewusst. Sie werden in ein Schema gepresst, das aus Zeit- und Effektivitätsgründen nicht zulässt, ihre alltäglichen „verrückten“ Fragen zu beantworten. Ich würde in jeder Schule jemanden dafür abstellen, der auf die vielen bunten Fragen der Kinder und Jugendlichen eingeht. Er/ Sie, am besten ein Mann UND eine Frau, müssten in Philosophie und Kinderpsychologie geschult sein. Lehrer*innen sind in kaum etwas richtig geschult, damals nicht und heute nicht, vor allem nicht im praktischen Umgang mit Kindern. Herr N. war schlimm, den bekam ich in der 3. Klasse. Herr N. brüllte, warf mit dem Schlüssel, zitterte und verteilte Kopfnüsse. Herr N. machte mir Angst, weil er Kinder anscheinend hasste. Vor allem: Der Drecksack wollte nicht, dass ich aufs Gymnasium gehe. Ich war ihm „zu verspielt“ und „zu unreif“. Meine Eltern wollten es auch nicht, weil sie N. vertrauten und ich als Arbeiterkind Arbeiterkindsachen zu machen hatte. Mein Vater fand es seltsam, dass ich so viel las und ich nicht wie ein „normaler“ Junge im Dreck wühlte. Ich war mir in allem Gewöhnlichem zu fein und beschäftigte mich lieber mit mir selbst als mit anderen. Schule war schrecklich für mich, zumindest die ersten 8 Schuljahre. Aber eins war gut, ich hatte dadurch die Berechtigung, zu lernen, in meinem Zimmer zu sitzen und nachzudenken, zu lesen, zu schreiben, Fantasiemaschinen zu zeichnen. Als ich mich dann mit 13 im Tischtennis-Verein angemeldet hatte, wurde alles besser. Langsam wurde ich dann doch ein „normaler“ Junge und entwickelte Schritt für Schritt ein wenig mehr Selbstbewusstsein. Ich hatte etwas gefunden, was ich ganz gut konnte: Top Spin und schmettern. Ich habe keine Bilder von dieser schönen Vereinszeit. Meine Eltern haben meinen glanzvollen Spielen nie beigewohnt. Von anfeuernden Fußballplatz-Eltern konnte ich nur träumen. 

Dass ich 25 Jahre später als Lehrer vor einer Schulklasse ebenfalls völlig unvorbereitet stehen werde, wäre mir an meinem ersten Schultag nicht einmal in einer Fantasiegeschichte eingefallen. Als ich unvorstellbar aufgeregt in meiner ersten „Lehrer-Stunde“ die Verbformen behandelte, dachte ich an N. Ich wusste, perfekt werde ich nie sein. Aber eins wusste ich mit Bestimmtheit: Ich werde Kindern niemals Angst einflößen. Zumindest nicht dauerhaft. 

Mit meinen Schülern mache ich immer eine Übung: Sie sollen sich das Verrückteste für ihr zukünftiges Leben ausmalen, das sie sich vorstellen können.  Olympiasieger, Fußballprofi, Chef, Hausbesitzer, Vater von 5 Kindern, Lehrer. Alles kann hier gewünscht werden. Fast alles ist im Leben möglich!  

Als ich Nicole vor Jahren zeigte, wo ich aufgewachsen bin, wo man mich mit der Feuerwehr von einer Felswand holen musste, wo ich im Keller und im Aufzug Angst vorm Schwarzen Mann hatte, wo unser Kater aus dem 7. Stock fiel und mit einem Beinbruch überlebte, wo der Vater eines Freundes ebenfalls freiwillig aus dem 6. Stock stürzte und danach im Rollstuhl saß, machten mir auch einen kleinen Abstecher ins Nachbarhochhaus. Spaßeshalber ging ich alle Klingelschilder durch. Mein Aufwachsen ist dafür verantwortlich, dass ich niemals mehr in einem Haus wohnen werde, wo es mehr als zwei Namensschilder am Eingang gibt. Und tatsächlich! Bei einem Schild blieb ich hängen. Meine „Königin“, mit dem langen schwarzen Haar, lebte immer noch in diesem Hochhaus des Schreckens. Sie hat Stuttgart-Rot niemals verlassen, wohnte in der gleichen Wohnung ihrer Eltern. Ich traute mich nicht zu klingeln. Ich wollte mein Bild von ihr nicht zerstören. Es war mir aber so, als ob ich beim Wegfahren ihren kleinen süßen kichernden Schluckauf wieder vernahm.  


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