Hausärzte haben eine wichtige Funktion im Gesundheitssystem, die oft von uns unterschätzt wird. Das Spezialistentum genießt in unserer Wertschätzung einen viel größeren Stellenwert. Der/die Spezialist/Spezialistin soll es richten. Wonderwoman und Wonderman. Nur wer schickt die Patienten in der Regel zu diesen von uns so verehrten Helden? Eben! Die Hausärzte müssen erkennen, dass etwas nicht stimmt. Müssen eine erste richtige Ersteinschätzung der Sachlage abliefern. Versemmeln sie es, ist der Patient womöglich tot, bevor das Rezept ausgestellt ist. Mein Hausarzt nimmt die Wehwechchen seiner Patienten*innen sehr erst. Manchmal zu ernst. Schnell kommt er mal gern mit einer möglichen Krebsdiagnose um die Ecke. Seltene Erkrankungen wecken den medizinischen Sherlock Homes in ihm, ebenso relativ empathielos wie der geniale Detektiv. Er freut sich immer wie Sau, wenn er meine Diagnose sprachlich korrekt ausformulieren und die entsprechenden Statistiken dazu zitieren darf. Leider hat er mit mir zusammen dennoch die Gefahr des vergrößerten Lymphknoten in meiner Leiste vor ein paar Monaten falsch eingeschätzt. Wenn dieser Fehler mir den Gar aus macht, wäre das echt bitter.
Mein Hausarzt ist einer der Kategorie „hört ungern zu“, aber gerne sich reden. Dabei spart er nicht mit medizinischen Fachbegriffen. Wir meinen alle, das macht jemand kompetenter. Ich bin jetzt schon ein paar Jahre bei ihm. Ich hätte ein schlechtes Gewissen, wenn ich untreu werden würde. Er ist kein schlechter Arzt, nur selbst für meine Begriffe etwas zu schräg. Sein soziales Engagement sieht man daran, dass das Wartezimmer häufig gespickt ist, mit den Vergessenen und Verlorenen. Was ästhetisch und rein geruchstechnisch hin und wieder kaum zu ertragen ist. Eine stinkende bunte Dame, die ihr Hippie-Outfit und sich Monate nicht gewaschen hat, ließ mich unter der FFP2-Maske ein wenig grün anlaufen. Auch eine 2. Maske hätte da nicht geholfen. Der Doc ohne Titel ist definitiv kein Arzt für die Reichen und Schönen, was ihn im Prinzip sympathisch macht. Wenn er denn um Himmels Willen ein wenig mehr zuhören und weniger Fremdwörter benutzen würde. Ich versuche ja mitzuhalten und mich nicht kampflos zu ergeben. Was meine Anliegen und mein Krankheitsbild betrifft, bin ich auch gar nicht so schlecht, wie ich finde. Polyneuropathie kann ich zumindest fehlerfrei aussprechen.
Heute war Blumenkohlnase mal so richtig sauer. So habe ich ihn noch nie erlebt. Er ist keine rheinische Frohnatur, lächeln habe ich ihn aber schon gesehen. Heute definitiv nicht. Er war ziemlich sauer auf seine Helferinnen, die „gegen ihn arbeiten“ würden, auf seinen kranken Hund, auf Politiker und die Afghanen, die alle zu doof seien. Was interessiere ihn Afghanistan oder Neuseeland. In der Erdgeschichte hätte es Millionen Jahre schon schlechtes Wetter gegeben. Niemand lese GEO. Dort würde alles erklärt. Außerdem hätte Putin die Checkung, der verstünde, dass man den Afghanen kein System von außen aufzwingen kann. Wer rein geht, müsse auch irgendwann wieder raus. In Afghanistan gebe es bereits überall Massenerschießungen. Leute, ich habe versucht zu intervenieren. Nachzufragen. Habe meine ganzen geopolitischen und Geschichtskenntnisse ausgepackt. Ich schwör. Keine Chance. 10 Minuten ging das so. Er wollte einfach nur seinen Frust los werden. Mit überwiegend sinnlosem Inhalt. Dabei betonte er, dass er voll im Stress ist und seine Helferinnen ja alles vergeigt hätten. Bei einem guten Arzt sagt man: Mensch, der nimmt sich aber mal Zeit für seine Patienten. Mein Hausarzt nimmt sich Zeit für sich. Das zeitliche Chaos verursacht also er selbst. Ich hatte Mitleid mit allem: mit ihm, mit den Damen am Empfang und der stinkenden Frau und ihren Mitpatienten. Ich bot Mister Brokkolinase an, mir einen anderen Termin geben zu lassen, schließlich ging es nur um etwas Bürokratisches, nämlich das Ausfüllen des medizinischen Gutachtens zur Feststellung des Schwerbehindertengrads. „Nönö, das ziehen wir jetzt durch, Herr Schnur!“ Na dann mal los! Hier wiederum gestaltete sich seine Expertise sehr hilfreich. Das Gutachten wurde bis zum Anschlag vollgekritzelt. Obduktionsbericht trifft es eher. Wenn da keine 100 Prozent rausspringen, bin ich richtig enttäuscht. Und die Schilddrüse kommt ja auch noch aufs Spielfeld. 120 Prozent also. Mindestens. Am Ende lobte er, meine Art mit der Erkrankung umzugehen. Er hätte große Achtung vor mir. Echt verflixt. Eigentlich ist Knollennase ein verdammter unerträglicher Freak, und dann aber wieder auch furchtbar nett. Na ja, die Hausärzte (und ich will einen MANN), die ich bis jetzt kennen lernen durfte, waren auch nicht gerade so dolle. Hausärzte sind eben Menschen wie wir. Bei dem Afghanistan-und Klima-Problem muss ich bei Gelegenheit nochmal nachhaken. Wenn der Hund von Riesenase ein Schäferhund ist und er irgendwelche Alternativen für Deutschland im Kopf hat, dann empfehle ich ihm bei der letzten Sitzung dringend eine Nasen-OP und ein Kommunikationstraining. Als ich nach einem Abstecher im dm nochmal am Schwanenweiher vorbei schaute, wen sah ich da auf der Parkbank sitzen? Die stinkende Hippi-Oma. Sie zwinkerte mir zu. Ich zwinkere zurück - und hielt den Atem an.
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