Blut und Verlust

Blutwerte sind wie immer so direkt nach der Chemo nicht gerade als optimal zu bezeichnen. Ein Anruf ereilt mich noch nicht. Also scheinen die Ärzte sich zumindest keine Sorgen zu machen. Gestern ging es mir schon erstaunlich gut. Schließlich stand ich den ganzen Nachmittag am Grill und sorgte für Flammkuchen satt. Überlege gerade, was ist jetzt richtig: manchmal oder oft.? Hm…Ich denke eher oft. Oft fühle ich mich richtig normal. Körperlich. Aber dann überkommt es mich auch schlagartig wieder. Dann bleibt mir die Luft weg.  Kurzer Schwindel. Stiche im Kopf. Nichts Schlimmes - und doch die Frage: Was passiert jetzt wieder hier mit dir? Niemand kriegt das mit, weil ich das ganz gut überspielen kann. Hier merke ich immer eindeutig, dass eben immer noh nicht alles gut ist. Vor allem nicht mein Blut. Blut. Wenn ich dieses Wort wichtig nehme, dann muss ich automatisch an Anna und Familie denken. Anna, mein eigen Fleisch und Blut, die gar nichts Genetisches von mir hat. Keine einziges Blutplättchen. Und trotzdem fühle ich mich so verbunden mit ihr, wie die Hand zum Arm. Ich werde verrückt, wenn ich nicht weiß, ob es ihr gut geht. Mein Blut bleibt stehen. 

Meine Schwester Martina und ich sind blutsverwandt und ich spüre nichts, nur Fremdheit. Ich bin fest davon überzeugt, es kommt auf die Gesamtsituation und das persönliche Gefühlslevel an, dann kann ein Mensch, Blut hin oder her, einem tief ins Herz hinein wachsen. Ich denke mal, sich mit einem 8 Wochen alten Fötus zu unterhalten, auch wenn man ihn da noch Felix nennt, hilft einem da ziemlich dabei. 

Ich habe Brüder gehabt, die nicht meine Brüder waren und habe zwei Menschen als meine Brüder betrachtet, die familiär nichts mit mir zu tun hatten. Leider habe ich auch sie verloren. Verlust und Gewinn scheint in meinem Leben immer nah beieinander zu liegen. Ich beneide Menschen sehr, die nie etwas zu verlieren scheinen. Verlust bringt mich als Mensch an meine Grenzen. Jeder Verlust rammt mich noch tiefer in den Boden. Da ich ein „Ausmaler“ bin, - das sind Menschen, die können sich Situationen in den buntesten Facetten „ausmalen“, - kann ich mir den imaginären Verlust ganz nah heranholen. Das nagt. Wenn es primär was gebe, dass ich therapeutisch aufarbeiten müsste, dann wäre es das: Die Angst vor Verlust. Wenn Kinder den Eltern oder andere Bezugspersonen nicht von der Pelle rücken, dann haben sie meistens Verlustängste, die irgendwann durch ein Trauma ausgelöst wurden. Verlustängste sind niemals einfach da, treten so mir nix dir nix aus heiterem Himmel auf. Ich habe nicht Angst, meine Blut-Schwester zu verlieren, ich habe aber Angst, die Menschen, die mir etwas bedeuten, loslassen zu müssen. Das verkrafte ich nicht mehr ganz so gut. Und je näher mir eine Person kommt und steht, desto größer ist die Angst vor Verlust. Diese Ängste spüre ich sogar bei meinem Schwiegerpapa oder bei der Mutter von Anna.  Es ist gut möglich, dass ich mich unterbewusst für die ehrenamtliche Hospizarbeit gemeldet habe, um gegen diese manifestierten Verlustängste in einer Art Konfrontationstherapie anzukämpfen. Halleluja bin ich bekloppt! Es tut trotzdem gut, die inneren Abläufe zu erkennen. Ich bin mir sicher, dass es dem einen oder anderen da draußen genauso ergeht. 

Erlebnisse in der Kindheit, der Umgang der Eltern mit ihrem Kind prägen es für das ganze Leben. Wenn man sich das zu sehr bewusst macht und das nicht permanent ignorieren würde, wäre ein Kinderwunsch schnell passé. Man kann aber auch einfach nur hoffen, dass die Psychotherapeuten bei Bedarf das dann alles wieder ins Lot rücken können. Leider gibt nicht allzu viel gute. Selten trifft man da auf einen Ivin D. Yalom. 

Zuerst dachte ich, das passt jetzt nicht unbedingt an dieser Stelle, aber warum eigentlich nicht. Die Natur kann immer für Symbole herhalten. Schwanenweiher - weg! Und was ist, sieht richtig schön aus. Im ersten Moment war man ein wenig entsetzt. Die Trockenlegung und Begrünung dient zur Auflösung des Faulschlamms, der regelmäßig  schlechte Wasserqualität  mit verursachte. Vogelkot und Brutkrumen trugen ihr Übriges dazu bei.  Die Neubegrünung zählt zur Vorbereitung für die komplette Sanierung. Der Ostpark soll für Stadtgesundheit und Aufenthaltsqualität sorgen. Da sieht man wieder: Aus Verlust kann auch etwas Schönes entstehen. Selbst der Übergang zwischen Abschied und Erneuerung muss nicht per se traurig sein. 



Alkoholisiertes Blut und Verlust. Der Schwanenweiher dient noch immer als Anlaufstelle für…?…ja, wie soll ich sie bezeichnen?…für verkrachte Existenzen, arme Seelen, Nichtsesshafte, Süchtige. Herumstehende Bier- und Wodkaflaschen zeugen von großer Einsamkeit. Der komatöse Schlaf auf der Parkbank steht für den Verlust von allem - vor allem der Würde. Ich nehme nicht an, dass das eine kurze Phase eines Jugendlichen Halbstarken ist. Auch ich hab in meinen Sturm-Drangjahren schon mal im Brombeerbusch übernachtet, hab mich aber bei Morgengrauen vom Acker gemacht, weil ich das peinliche Glotzen nicht ertragen hätte Der Mann bekam das Glotzen nicht mit. Er hat all seine Sinne verloren. Warum geht msn nicht hin und schaut, ob er noch lebt; lässt ihn einfach so da liegen, ohne Anteilnahme? Das wäre nichts Falsches gewesen. Falsch ist es, vorbei zu laufen, ohne etwas zu tun. Ich war auf dem Weg zum Arzt. Sollten sich andere um ihn kümmern. Ich glaube, daran krankt unsere Gesellschaft: Wir kümmern uns nicht mehr. Nur in selbst „ausgewählten“ Situationen. Am Eingang packte mich das schlechte Gewissen. Ich wollte hier einfach nicht Icke folgen. Ich kehrte zur Parkbank zurück. Der Mann saß aufrecht und nuckelte an einem Bier. Wer hat nun gewonnen? Icke oder ich? 

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