Über das Blogschreiben

Ich folge keinem besonderen Rhythmus, was das Schreiben anbelangt. Ich schreibe also nicht immer zur gleichen Zeit. Somit ist auf die Zeitform kein verlass. Das lässt mir somit eine absolute Freiheit. Ich tippe, wenn mich die Muse küsst und gerade nichts anderes ansteht. Bis jetzt bin ich fast jeden Tag geküsst worden. Vielleicht ist das meine einzige innere Vorgabe: Schreibe täglich! Oft schreibe ich nachts. Das Handy macht es möglich. Zuerst war Nicole skeptisch. Aber als sie die Schnelligkeit meines Tippens mitbekommen hat, war das kein Thema mehr. Ich kann immer und überall schreiben. Ich nehme hierfür die Notizen-App von Apple, kopiere den Text und füge ihn dann in Jimdo ein. Manchmal muss ich am Computer nachsteuern, weil Dinge am Handy nicht möglich sind. Bilder verschieben zum Beispiel. Es gibt nur eine Korrektur-Instanz. Nicole. Dies aber nur rudimentär. Man kann also von einem äußerst authentischen, „rohen“ Text sprechen. Bisher sitze ich selten mehrere Tage an einem Eintrag. Die Beschreibungen meiner Halbschwestern waren natürlich nicht in wenigen Stunden zu machen. Das brauchte Zeit. Themen fallen mir spontan ein oder sind einer langen Liste entnommen. Es gibt vieles, worüber ich noch schreiben möchte. Impulse kann mir so gut wie alles liefern. Das Thema legt oft auch die Form fest. Inhalte bekomme ich entweder über einen Brief, einen Bericht oder einen Essay besser transportiert. Je nach dem. Eine Prise Humor ist fast immer meine Zutat, wie das Salz beim Kochen. Aber manchmal sind andere Gewürze zu dominant, so dass das Salz zu viel des Guten wäre. 

Ja, der Blog ist natürlich eine Art Tagebuch. Selbstverständlich. Aber eben auch nicht, weil ich ALLE mich umtreibenden Themen unterbringen kann, und nicht nur mich allein. In einem Tagebuch steht nicht unbedingt ein Aufsatz über unsere desaströse Bildungspolitik. Ein Tagebuch ist in Inhalt und Form eher starr, unflexibel. Ich will appellieren, schildern, beurteilen, analysieren, aufrütteln, aufarbeiten, pädagogisieren, zum Nachdenken anregen, mich transparenter machen, mich erklären, andere und mich selbst motivieren. Der Blog ist meine Couch, der Therapeut bin ich selbst. Ich brauche das. Es ist (m)ein Mittel, nicht verrückt zu werden. Es ist wie ein Drang, sich zu bewegen. Man kommt nicht davon los. Man muss es einfach tun. Der Aspekt der Öffentlichkeit spielt eine untergeordnete Rolle. Erst einmal. Ich würde auch vieles aufschreiben, wenn ich nicht gelesen werden würde. Natürlich möchte ich gelesen werden - von Anna, Nicole meiner Familie und meinen engsten Freunden. Meine Ambition: zu zeigen, wer dieser Typ ist und WAR. Das habe ich in mir. Ich weiß nicht warum. Oder doch? Ich habe schon mein ganzes Leben das Gefühl, ich werde nicht richtig gesehen. Ich habe das Bedürfnis mich erklären und das Bild, das man von mir hat, richtig stellen zu müssen. Wahrscheinlich würde ein Profi-Therapeut deuten, dass dies bestimmt mit der geringen Wertschätzung innerhalb der Ursprungsfamilie zu tun hat.  Der permanente tiefe Wunsch nach Richtigstellung und Entblößung wurde dadurch ausgelöst: Hört her, so bin ich; ich bin nicht so, wie ihr mich seht; ich bin nicht Schnur! Ich will EUER Schnur gar nicht sein. In den letzten Wochen habe ich folgende Sätze gehört: 

- Oh, das habe ich ja gar nicht gewusst. 

- So hätte ich dich gar nicht eingeschätzt. 

- Ich entdecke da ganz wunderbare Seiten an dir. 

- Du machst dir ja echt einige Gedanken. 

- Deine Haltung und deine Sichtweisen gefallen mir. 

- Du motivierst mich! 

- Ich folge Deinem Blog jeden Tag. 

Von solchen Sätze bin ich natürlich berauscht. Sie sind im Prinzip das Ziel, mein Elixir. 

Durch meinen Blog sind mir Menschen näher gekommen. Sie sehen mich plötzlich mit anderen Augen. Durch meinen Zustand, meine Radikalität sind mir einige Menschen aber auch unwichtig geworden, weil ich spüre, wie unwichtig ich ihnen eigentlich bin.  Es wären sogar Menschen dabei, die behaupten würden, dass ich ihnen wichtig sei, aber nichts dafür tun, aus was für Gründen auch immer. Sie schweigen lieber als mit mir in Kontakt zu treten. Anna hat gestern in einem tollen Gespräch gesagt, wie sehr sie Oberflächlichkeit nervt. So geht es mir auch, zusehends. Mehrmals hat sie die Vokabel „uninspiriert“ verwendet. Man kann auch gern andere Wörter für dieses Urteil finden: Burnout, Sinnkrise, Sinnsuche, Midlifecrisis. Nicht unbedingt für Annas Zustand, sondern für meinen. Vielleicht von allem etwas, oder auch nichts davon, keine Ahnung. 

Eine todbringende seltene Krankheit zum zweiten Mal nach 10 Jahren diagnostiziert zu bekommen und das Wissen, dass alles was da nun kommt, lebensverlängert ist und nicht auf eine Heilung hinauslaufen wird, macht mit einem etwas, außer man ist schon tot. 

Der Blog ist eine Art Selbsthilfegruppe. Es tut gut zu hören, mir geht es auch so; ich sehe das auch so wie du. Ich fühle mit dir! Ein zentraler Unterschied zur tatsächlichen Selbsthilfegruppe besteht aber: Die Mitglieder*innen wissen nicht gar nicht, dass sie Teilnehmer*innen einer derartigen Gruppe sind. 

Wenn man von „intellektuell“  spricht, hört sich das häufig dispektierlich an. Pfui Teufel, ein Intellektueller! Man äußerst sich vielleicht auch bewundernd: Toll, dass es solche nachdenklichen Menschen gibt. Oder man resigniert: Also das könnte ich nie, ist mir viel zu stressig. Ich denke nicht viel nach, ich lebe einfach. Aber was bedeutet das überhaupt intellektuell? Man denkt nach, versucht Themen des Lebens mit dem Verstand auf den Grund zu gehen, sich mit anderen darüber auszutauschen, und das ständig, meistens beruflich, selten als Hobby. Mich interessiert ALLES. Ich möchte alles wissen und verstehen. Andere und mich. Das war mir immer schon wichtig. Die Frage, warum verhält sich das so, kreist wie ein Rettungshubschrauber über meinem Kopf. Was macht eine bevorstehende Endlichkeit mit uns? Wie gehe ich, wie geht mein Umfeld damit um? Wer wollte ich sein? Wie kann ich ein guter Mensch sein? Wer ist ein Vorbild? Ich nehme etwas wahr und stelle gleichzeitig Dutzende Fragen in meinem Kopf. Mein Wunschtraum wäre es, allen Menschen Fragen zu stellen und ehrliche Antworten zu erhalten. Oder ihnen meine intimsten Gedanken zu schildern und zu wissen, was sie davon halten. Ein Shawn Murphy, der WISSEN MUSS, um in einer für ihn als Autisten undurchschaubaren Welt, Klarheit zu erhalten. Der nachts aufschreckt, etwas träumt, das ihn zutiefst irritiert und am nächsten Tag alle schonungslos offen fragt, was das zu um Himmels Willen zu bedeuten hat. Der zu jemandem hingeht und aus dem Nichts die Frage stellt, warum denkst und machst du das so, um Rückschlüsse auf das eigene Verhalten und Handeln zu ziehen, um daraus zu lernen. Oder um demjenigen einfach zu erwidern: Das ist irrational! Das verstehe ich nicht! Um damit dann in einen Diskurs zu geraten. Warum wählst du diese Partei? Warum glaubst du? Was denkst du über den Tod? Was bedeutet für dich Vatersein? Solche Fragen werden mir nur selten gestellt. Warum? Sie sind doch spannend. Anscheinend hat man Angst davor, dem anderen mit etwas evtl. zu nahe zu treten. Es gibt zahlreiche (überwiegend?)„beste Freunde“, die NICHTS voneinander wissen. Furchtbar! Intellektuell zu sein, ist nichts Verwerfliches, nichts Skurriles, nichts Abgehobenes, sondern müsste etwas zutiefst Menschliches sein. Es sollte nicht das Privileg einer Minderheit darstellen, sondern das Credo der Mehrheit! Es bedeutet: Fragen zu stellen und Antworten zu suchen. Sich miteinander auseinander zu setzen und auszutauschen. Wir machen viel zu viel mit uns selbst aus, schweigen statt zu reden, bilden uns eine Meinung, ohne etwas zu erörtern. Ist es wirklich so schlimm, sich angreifbar zu machen?  Wir trennen viel zu häufig Verstand und Bauchgefühl. Spielen beides gegeneinander aus. Vielleicht gehört beides aber auch unweigerlich zusammen. Ein Intellektueller kann doch auch aus emotionalen Gründen handeln und ein Bauchmensch kann intellektuell sein. 

Ich nutze meinen Verstand, um Dinge zu beurteilen, aber Ende siegt dann doch (häufig) mein Bauchgefühl, das wiederum meine gedankliche Auseinandersetzung bestätigt. Deshalb bin ich mir sicher, dass Aliens existieren, glaube ich nicht an Gott und die Schöpfungsgeschichte, finde aber Jesus und Buddha cool, glaube nicht an das Gute im Menschen, hoffe aber, dass sie gut sind - und nicht die AfD wählen. Ist mir die Figur Höcke unbegreiflich, sowohl innerhalb meines Verstandes als auch aufgrund meines Bauchgefühles. Ist das Versagen der Welt in Afghanistan und im Mittelmeer kaum zu ertragen. Warum können Menschen nicht dort leben, wo sie leben möchten und sich in Sicherheit fühlen? Dieses Recht steht mir doch auch zu. Der Verstand löst hier geradezu körperliche Schmerzen aus. Bauch-weh! 

Ich kann mir das Verhalten meines Vaters, meiner Geschwister erklären, verstehe sie aber nicht. Mein kluges Hirn flüstert mir zu, das Gendersternchen hat seine absolute Berechtigung, meine dumpfe Wampe brüllt „Bullshit, total gaga, Mensch! Gleichberechtigung,

mit Sternchen zum Ausdruck gebracht, findet auch in DIESEM Leben nicht wirklich statt. Wenn in deutschen Familien mit Kindern vorwiegend gleichberechtigt agiert wird, sagt mir Bescheid! 

Mein Verstand sagt, leg los, tu endlich was fürs Klima. Es ist 5 nach 12. Die Kacke ist aber mal so richtig am dampfen. Meine Lust, meine Gier, meine Eitelkeit, meine Einfältigkeit und Icke bombardieren meinen Verstand jeden Tag von Neuem! Ich bin in dieser Hinsicht kein Intellektueller, sondern eine Kakerlake. Sorry liebe Tierliebhaber*innen und Tierschützer*iinnen. Die Kakerlake ist an dieser Stelle rein metaphorisch zu verstehen. Kakerlake = widerliche Kreatur! 

Darüber nachdenken und nichts verändern, ist das besser als ignorieren und nichts tun? Mit meinem Blog möchte ich bei einigen Themen mir selbst den Finger in die Wunde legen, um mich indirekt zu motivieren, endlich den Allerwertesten hoch zu kriegen. Und um wenigstens kein Ignorant mehr zu sein. Ich könnte natürlich mein Maul halten und mir meine Gedanken im Stillen machen, aber das finde ich öde. Ich lebe das, was ich mir eben gerne wünsche. In letzter Konsequenz bleibt mir also nichts anderes übrig, als diesen Blog zu verfassen. Psychologe wollte ich ursprünglich werden. Das wäre am Ende vielleicht besser gewesen. Wie heißt es immer so schön: Die Psychologen*innen haben doch alle selbst eine Macke. Wahrscheinlich ist da sogar was dran. 

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