Kein Allerweltstag

01.30 Uhr 

Beide können wir nicht schlafen. Nicole noch weniger als ich. Aufregung vor der OP. 1,5 Stunden dauert sie. Routineeingriff, sagt man. Eine Thrombosespritze musste sie sich bereits zuhause verabreichen. Das war schon mal eine Nummer. Kostete Überwindung und hinterließ eine Verletzung am Finger. Unsere Henkersmahlzeit führten wir in einem netten Lokal durch. Wie sagt Michele immer so schön: Wenn untergehen, dann wenigstens satt. Bingo! Meine Aufregung hält sich in Grenzen. Bin ja Profi, was CTs und MRTs anbelangt. Außerdem ist das Befundgespräch erst eine Woche später. Also noch viel Zeit, um nervös zu werden. Es wäre schon richtig cool, wenn der vierte Zyklus mein letzter wäre. Dann wüsste ich, für was ich den Scheiß durchmache. Ich hau mir natürlich auch weitere zwei rein. Was bleibt mir auch anderes übrig. Will mir ja schließlich keinen Ärger mit Nicole und Anna einhandeln. Wenn sich das Gesetz der Steigerung durchsetzt, werde ich in der letzten Runde an der Schwelle des Todes stehen, das ist gewiss. Bis jetzt hat mich jeder Chemozyklus noch ein ganzes Stück mehr umgehauen. Gewöhnung gleich null. Trotzdem kann ich ja nicht klagen. Es ist schon beeindruckend, wie schnell ich mich immer wieder erhole. Vor ein paar Tagen hatte ich einen Anflug von Größenwahn und ich überlegte tatsächlich,  laufen zu gehen. Ich entschied mich dagegen. Das IS-Gelenk war der Grund. Ich will es noch nicht überstrapazieren. Meine Blutwerte sind übrigens top. Auffälligkeiten sind kaum der Rede wert. Sogar die Harnsäure ist etwas runter und das Kreatinin im Normbereich. Meine Nieren scheinen also gut zu arbeiten. Mein Hausarzt lief mir bei der Blutabnahme über den Weg, Interessierte sich aber nicht für mich. Na ja, war wohl noch im Urlaubsmodus. Komplizierte Fälle ignoriert man da ganz gerne einmal. Läuft ja auch alles. 


Um 05. 30 Uhr startet unser Tag. Endlich darf ich mal Taxifahrer spielen. Werde Nici zuerst in die Klinik begleiten und dann nach Heidelberg weiterdüsen. Das erste Mal ganz alleine, ist ja auch mal schön. Um 10.00 Uhr kommt Nicole unters Messer und ich werde um 09.45 Uhr in die Röhre geschoben. Dass wir das mal so gemeinsam erleben, hätte auch keiner vorhersagen können. Das Leben ist eins der überraschendsten. 


10.06 Uhr 

Keine aktuellen Schilddrüsenwerte vorhanden, deshalb muss ich nochmal zur Blutabnahme. Alles verschiebt sich somit um eine Stunde bis die Werte im System sind und ich das CT machen kann. 


Nicole ist vorbereitet und wartet darauf, aufgeschnitten zu werden. 


Ich kann wenigstens frühstücken gehen. Hurrah! Gestern wurde mir gesagt, ich müsste nüchtern kommen. Auch eine Weltklinik ist nicht vor Chaos geschützt. 


Eine klagende alte Dame bei der Blutabnahme: „Mir ist das alles zu viel. Kann der da oben mich nicht einfach holen. Kann er nicht sein großes Buch aufschlagen und sehen, dass meine Zeit längst abgelaufen ist. Niemand interessiert sich für den anderen. Ich bin es leid.“

Wie viele Menschen ergeht es wohl so, wie dieser alten Frau? 

Hierher müsste die wehklagende alte Dame begleitet werden. Eine kleine Chance, ihr trauriger Gemütszustand etwas aufzuhellen. Wieder mal ein Indiz dafür, dass Umwege, Verzögerungen, Abzweigungen auch etwas Gutes haben können. Ich wäre nach dem CT bestimmt nicht hier in den Botanischen Garten gegangen. Vor 10 Jahren war ich ständiger Gast dort. Wie hab ich den Froschteich im Mai geliebt, ich konnte mich nicht satt sehen und hören. Der Garten ist schöner als damals. Interessanter. Sogar Sonnenschirme hat man aufgestellt. Die Bänke sind voll mit Patienten und ihren Angehörigen. Aber auch Studenten genießen ihren Kaffee in der Sonne. Dieser harmonische Ort lässt niemanden kalt zurück. Wann nehmen wir uns eine solche besinnliche Auszeit für uns alleine? Manche müssen das sogar wieder lernen oder werden es nie für sich in Anspruch nehmen können. Denken, beobachten, hören - einsame Handlungen, die so reich sein können. Wenn ich die Botanik durch meine Handykamera wahrnehme, habe ich das Gefühl, dass ich den Pflanzen dadurch noch mehr auf den Grund gehe, in ihre Seele schauen kann. Es ist schade, dass ich kein richtiger Fotograf bin. Ich würde gern die ganze Welt durch ein Objektiv betrachten. Wird sie dadurch schöner oder hässlicher? Kommt auf das Objekt an. Die Welt hier auf der Bank unter einer Hänge-Hainbuche ist auf jeden Fall wunderschön! 



Ich bin hinter einem älteren Ehepaar her gelaufen. Na ja, eher getrottet. Er 127 und sie 112, nach der Gebrechlichkeit und Langsamkeit der Bewegungen zu urteilen. Sie erinnerten mich an Grandma Abigail aus „The Last Stand“. Die Greisin hatte da mehrere Tage gebraucht, um die die hundert Meter zum Brunnen zurückzulegen. Der Mann hatte einen Rollator und eine aus dem Arm baumelnde Kanüle. Ich überholte sie nicht, denn es gefiel mir, sie zu beobachten. Die Frau hatte ihre Hand auf die ihres Mannes und half ihm somit beim Führen des Fahrgerätes. Er: Du musst nicht traurig sein, wenn ich gehe. Wir hatten ein gutes Leben. Sie: Ja, das hatten wir Richard, und dafür bin ich unendlich dankbar. Trotzdem werde ich traurig sein. 

Ich bin mir nicht sicher, aber der Mann weinte - und ich ein bisschen mit ihm mit. 


11.59 Uhr - warten auf CT 


12.40 Uhr 

Juhee, CT geschafft! Wie ich diese Geräte hasse. Ich weiß ja, dass sie ihren Teil dazu beitragen, George Lymphomi zu besiegen, aber trotzdem liege ich da nicht gerne drin. Seltsames heißes Gefühl, wenn das Kontrastmittel durch den Körper rauscht. Ein Bildschirm an der Decke soll einen beruhigen. Darauf wird gezeigt, wie ein bunter Heißtluftballon aufgeblasen wird. Hallooo! Katzenbabys oder Regenbogenfische beruhigen mich, aber doch nicht Heißluftballons. 


12.48 Uhr 

Muss nur noch warten bis die Nadel entfernt wird, dann gehts zu Nici in die Klinik. Hat sich bis jetzt noch nicht gemeldet. Wird noch pennen. 


16.15 Uhr 

Nici lebt, ist aber ziemlich ramponiert. Die Wunde setzt ihr ganz schön zu und ihre Stimme klingt wie Janis Joplin nach zwei Flaschen Whisky. Sie konnte aber schon etwas lächeln. So eine Bandscheiben-OP ist halt kein Kindergeburtstag. Ich freue mich schon einen guten Wein auf die Station zu schmuggeln. 

21.30 Uhr 
Alex allein zuhaus. Das ist furchtbar seltsam. Wenn ich die Tage in den letzten 9 Jahren addiere, in denen ich ohne Nici ins Bett bin, komme ich vielleicht auf maximal drei Wochen.EinMitbewohnerlenkteinem von sich und seinem Ego ab, was ziemlich gesund ist. Ich glaube, allein würde man noch schneller durchdrehen. Ich liebe es eigentlich für mich zu sein, wenn ich weiß,dassjemand daist. 

Frage: Was macht man, wenn einem die Nachbarn das Angebot unterbreiten, zu ihnen die Tage zum Essen zu kommen und man aber keinen Bock dazu hat. Die Jammerei von ihr geht mir auf den Keks.Siesindaberlieb, interessiert, kümmern sich. Manchmal zu viel. Wahrscheinlich nehmen sie an, dass mich die Selbstversorgung als Mann bestimmt überfordern muss. Ohne Nici bin ich in ihren Augen derGefahrdesHungertods ausgesetzt. 
Ich denke mal, dass ich entweder aus Höflichkeit annehme oder eine Ausrede präsentiere. Katzenallergie! Die linken Nachbarn reden nix und die rechten reden zu viel. Dem Schnur kann man es aberauchgarnicht recht machen. 

Ich hasse Tabletten. Ich kann sie nicht mehr sehen. Ich muss ja nur noch zwei nehmen. Eine davon das Breitbandantibiotikum Cortim jeden zweiten Tag als Prophylaxe. Ist ein Riesen Brummer. IchkriegdasDing kaum runter. Visualierungsmäßig versag ich hier komplett. Ich kann mir nichts Gutes in Verbindung mit dem Mini-U-Boot vorstellen. Etwa das russische Atom-U-Boot. Potempkin, das mir George Lymphomi wegballert. Sobald ich Tablette in der Hand halte, ist meine Kreativität wie vom Erdboden verschwunden. Muss mich zusammenreißen, nicht zu kotzen. Wie konnte ich bloß vor 10 Jahren 18 Tabletten aneinem Tag schlucken. Sagenhaft! Und jetzt maul ich bei 2 schon rum. 

Ich höre jetzt jetzt einen einfachen Krimi, wo man nicht viel nachdenken muss. Der killende Massenmörder wird mich schon in den Schlaf wiegen.
Gute Nacht! 

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