Familie II - meine Halbschwestern aus dem Osten

Heute habe ich wieder Genesungswünsche erhalten, außerdem ist morgen Jahrestag Mauerbau. Anlass für einen weiteren dazu passenden „Familien-Eintrag“. Rita, Inge und Hannelore - meine 3 Halbschwestern, die Töchter meines Vaters aus erster Ehe, sollen heute im Mittelpunkt stehen. Hannelore ist leider bereits in den 90er Jahren an Brustkrebs mit knapp 50 verstorben. Rita ist 87 und lebt in Klein-Wangelin (Plau am See) in Mecklenburg-Vorpommern, Inge ist 82 und wohnt mit ihrem Sohn in Berlin-Köppenick, dem Geburtsort meines Vaters. Mit beiden Schwestern stehe ich per Briefpost regelmäßig in Kontakt. Mal mehr, mal weniger. Rita, nicht tot zu kriegen, hat jetzt das Steißbein gebrochen und läuft nur noch mit großer Mühe am Stock. Vor Kurzem ist sie noch Auto gefahren. Ihr schwer behinderter Sohn Matthias, der wohl so um die 60 ist, lebt immer noch bei ihr im Haus. Der Arme hat bei der Geburt zu wenig Sauerstoff erhalten, das hat zu einem Hirnschaden geführt. Hat ne ziemliche Matschbirne! Körper ist aber soweit intakt. Rita: auch die „rote Rita“ genannt, ehemals Vorzeigekommunistin, mit vielen Auszeichnungen des untergegangenen Arbeiter- und Bauernstaates bedacht. Heute ist sie Zeugin Jehovas. Wer sich ein wenig auskennt, weiß, dass das ziemlich irre ist (oder vielleicht doch nicht?), weil der Kommunismus nach Marx und Engels ja eine Religionszugehörigkeit äußerst kritisch betrachtet (Religion gleich Opium für das Volk und so). Dennoch passt dieser Sinneswandel auch irgendwie wieder. Es scheint so, als wenn man ein festes unverrückbares Konstrukt benötigt, um im Leben Halt zu finden, egal wer der Initiator der betäubenden Weltanschauung nun ist. Rita schreibt mir regelmäßig, wenn sie nicht gerade krank ist: vollgeschriebene fehlerfreie Karten in gestochen scharfer Schrift. Sie erzählt aus der Vergangenheit, von Urlaubsreisen innerhalb des Eisernen Vorhangs, Belobigungen, Familienhintergründe, schräges systemkritisches Zeug. Eine Verschwörungstheorie a la Attila Hildmann oder Ken Jebsen konnte ich aber noch nicht ausmachen. In einigen Passagen lässt sie stets kein gutes Haar an unserem Vater, was ich leider alles bestätigen kann. Es ist interessant, wie wir beide die gleiche Sicht auf ihn haben, obwohl wir in völlig verschiedenen Welten mit ihm zu tun hatten. Rita hat mir vor vielen Jahren ein paar Mal den „Wachtturm“ zugesandt. In einem ausführlichen „netten“, aber dominanten Brief habe ich mich gegen diese Lektüre ausdrücklich verwehrt. Ich bin ja eine Leseratte, aber irgendwo ziehe auch ich dann meine literarischen Grenzen:  Seiten voll von schlimmsten Prophezeiungen, Bekehrungen und Belehrungen törnten mich eher ab als an. Um einiges übler als bei Fridays for Future. Ich wusste sofort: Schnuri, das ist nichts für dich, das ist alles total durchgeknallt. Freigeister und Zweifler möchten nicht, dass für sie gedacht wird. Ich find ja Jesus auch genial, aber ich will über mein Leben trotzdem noch selbst bestimmen. Wenigstens konnte ich diese Schauerhefte für den Ethikunterricht nutzen. In meinem schönsten Jehova-Anzug rieb ich die Dinger den Jungs und Mädels unter die Schülernase. Jetzt schickt mir die „erleuchtete Rita“ nur noch Zeitungsausschnitte, in dem es um Staatsversagen, Errungenschaften des Ostens oder Versagen des Westens geht. Hin und wieder sind auch Ausschnitte von entfernter Verwandtschaft dabei, schöne und nicht so schöne. Wolfgang Schnur, der Anwalt und Stasispitzel soll sowas wie ein Großcousins von mir sein. Na da bin ich aber mal mächtig stolz. Auf der Schnurschen Ostseite soll es einige Lehrer*innen und renommierte Juristen (absichtlich ohne Gender-Stern) geben. Die Geschichten, die Rita zu erzählen hat, sind oft spannend und unbeabsichtigt erheiternd. Ihre bedingungslose Liebe zu Russland als „Befreier“ sind häufig leider kaum zu ertragen. Verständnis habe ich natürlich für ihre verklärten Emotionen diesbezüglich: Die Rote Armee hat schließlich mitgeholfen, Hitler-Deutschland vom Faschismus zu befreien. Der Kommunismus und die Weltanschauung der SED-Diktatur hat meine Schwester sozialisiert und geistig fest im Griff. Wie würde ich wohl denken, wenn ich so aufgewachsen wäre wie sie? Ein Stab möchte ich da über diese alte Dame ungern brechen. Sie hat 4 Kinder, eine Tochter ist vor Kurzem an einem Hirntumor verstorben. Ich hoffe, sie kann mir eine ganze Weile weiter Geschichten erzählen. Ich  würde sie ganz gerne noch einmal sehen. Reisen kann sie leider nicht mehr; sie kann ihren Sohn auch nicht alleine lassen. Rita muss Lebensenergie- und willen für 10 haben. Ihre Mutter war zum Schluss geistig sehr verwirrt und ist ebenfalls weit über 80 geworden. Es heißt, dass sie meinen Vater bis zu ihrem Ende abgöttisch geliebt hat. Sie soll oft solche Sätze wie „Wann kommt denn endlich der Willi aus dem Krieg wieder?“ gesagt haben. Gruselige Vorstellung, seine Gedanken das ganze Leben einem „unsichtbarem“ Mann gewidmet zu haben. Mein Vater ist nach dem Krieg in Waiblingen hängen geblieben und hat sich da erst scheiden lassen. Mit seiner Erstfamilie wollte er dann mehr oder weniger nichts mehr zu tun haben. Ob meine Mutter der Grund für seine Absonderung war, kann ich nur vermuten. Irgendwann müssen sich die beiden auch mal geliebt haben. 

Inge hat uns in Stuttgart mit ihrem Mann ein paar Mal besucht.  Inge, die „Schöne“ - bis heute hat sie nichts an ihrer Schönheit und Anmut eingebüßt. Topfit durch tägliche Gartenarbeit und Schwimmen in der Spree. Mit Freundinnen ging sie vor der Pandemie regelmäßig auf Reisen und hat die halbe Welt gesehen. Sie hat eine sehr ruhige Art mit Menschen umzugehen. Ein wenig erinnert mich Ihre Sanftmut und Rücksichtnahme an Nicole. Inge und ihr Mann Horst wurden damals von der westdeutschen Bundesregierung „frei gekauft“ und konnten in den Westen übersiedeln. In Ost-Berlin habe ich sie 1985 während der Abschlussfahrt mit meiner Realschulklasse besucht. 1988 noch einmal. Aufregende Reisen. Ost-Berlin zur damaligen Zeit war wie ein anderer Planet. Erlebnisse an der Deutsch-Deutschen-Grenze wird man nie wieder vergessen. Die schauerliche DDR-Cola. Das dreckige Grau. Angst einflößende Grenzposten, die wie eine Mörderbande von James Bond aussahen. Ein Staat ohne positives Lebensgefühl.

Eigentlich verstanden wir uns immer gut. Es war für mich etwas ganz Besonderes Verwandtschaft in Berlin zu haben. Die Teilungs- und Vereinigungsgeschichte bekam ich sozusagen aus erster Hand geliefert. Mit meiner „Mami“ saß ich 89 hemmungslos flennend vor den Tagesthemen mit Hans Joachim Friedrichs, hielten uns an den Händen und konnten es kaum glauben, was da passierte. „Papi“ war da schon 3 Jahre tot. Ob er sich gefreut hätte? Ich bin mir nicht sicher. Er war, so vermute ich, ganz froh, dass seine erste Sippe „eingesperrt“ gewesen war, konnten sie schon keine Ansprüche an ihn stellen“. 

Einen Haken hat meine  Beziehung zu Inge leider: Ihr Sohn - mit dem sie zusammen in einem schönen Haus direkt an der Spree in Berlin-Köppenick wohnt, ist Mitglied der AFD. Das erschwert so ziemlich alles. Ein schräger Vogel, der sich von allem und jedem verfolgt und missachtet fühlt, natürlich ganz besonders von den Flüchtlingen. Er ist Waffennarr und findet die Deutsche Wehrmacht cool. Sammelt und trägt hin und wieder militaristische Symbole, die er dann stolz seinem Publikum präsentiert. Das Problem: Wenn der ganze politische rechtsradikale Scheiß nicht wäre, wäre er glaube ich ganz nett und lustig. Unser Besuch vor drei Jahren war die reinste Katastrophe. Ständig wurde gegen das System und die Flüchtlinge gehetzt. Es fing am Frühstückstisch an und ging beim Abendbrot weiter. Über den Eklat mit dem deutschen  „Kameltreiber-Radfunktionär“ bei Olympia kann ich nur lachen. Wenn das Fernsehmikro bei uns am Esstisch an gewesen wäre, hätte mein Neffe garantiert eine Anzeige wegen Volksverhetzung an der Backe gehabt. Das Presseorgan der Partei lag in der Küche. Inhalt und Style wie eine BILD-Zeitung.   Offensichtlicher Ausländerhass! Überall Verbrechen! Schwester liest Wachtturm und der Neffe AFD-Zeitung - und alles in der selben Familie. Ich wollte NUR mit meiner Schwester Inge ein wenig bei Kaffee und Kuchen klönen. Schwierig!

Vor ein paar Tagen schrieb ich meinem „Flüchtlinge-nehmen-uns-die-Arbeit-weg-und-vergewaltigen-unsere-Frauen-Neffen“, nachdem er wieder einen Aufruf zum Kampf gegen die Demokratiefeinde an mich weiterleitete. Man stelle sich das bitte vor. Ich bezog klar Stellung, bot ihm die Stirn, las ihm die Leviten, das volle Programm eben. Eigentlich sagte ich ihm, dass er völlig bekloppt sei, aber etwas eleganter formuliert. Ich drohte nicht mit dem "totalen Krieg", sondern mit totalem Rückzug, falls er mich noch einmal mit seinem Bürgerkampf-Dreckscheiß belästigt. Jetzt kommt’s. Er hat daraufhin überhaupt nicht auf mein Geschreibsel reagiert, sondern sich wieder ganz lieb gemeldet und mich und Nicole aus dem Urlaub gegrüßt. Kein Wort zu meinen Ausführungen. Hä? Das will ein Revolutionär sein. Nicht einmal ein klein wenig Gegenwind? Da bin ich aber mächtig enttäuscht. Ich muss da jetzt einen Weg finden, wie ich den Kontakt zu Inge halten kann, aber ohne den AFD-Fascho. Links würde ich mir ja noch geringfügig gefallen lassen, aber rechts-rechts-außen geht gar nicht. Ich glaube zu wissen, warum Frank so geworden ist, wie er jetzt ist. Er hat früh seine liebe goldige Frau an das Arschloch Krebs verloren, und macht jetzt so gut wie jeden, der ihm nicht in den Kram passt, im Unterbewusstsein für sein Schicksal verantwortlich. Ich glaub, das läuft häufig so ab: AFD-Sympathisanten sind die vom Schicksal Gebeutelten und Verprellten. Sie benötigen einen Sündenbock für ihre Misere: der Staat, Merkel, Ahmed, der Flüchtling oder Kalle Lauterbach. Haben vor allem und jedem Angst.  Hatten wir das nicht alles schon mal? 

Ich mag die familiäre Geschichtsaufarbeitung, die ich mit Rita und Inge betreiben kann. Eine emotionale Bindung? Eher nicht. Inge stehe ich vielleicht ein wenig näher, obwohl ich mit ihr viel weniger kommuniziere als mit Rita. Eventuell liegt es einfach an ihrer Art und ihrem Hang zum Ausgleich. Ich habe sie noch nie ein böses Wort über jemanden sagen hören. Selbst unser Vater kommt glimpflich bei ihr weg. 

Familie, oh Mann, schon alles ziemlich dubios. Aber Hah, es wird noch besser! Versprochen! Die „West-Seite“, meine Ursprungsfamilie, der Schnur-Clan sozusagen, wird ja noch weiter beackert. Demnächst auf diesem Kanal! Nimmt mich immer sehr mit von meiner verrückten „Nicht-Familie“ zu berichten. Spaß macht’s trotzdem! 

 

 

So gefallen mir Krankenbesuche. Tolle Geschenke und Quatschen bei einem leckeren alkoholfreien Sekt aus Frankreich. Die Kollegin, die mich besucht hat, ist eine umtriebige Rentnerin und eine renommierte Landauer Künstlerin. Zur Hochzeit gabs den Wachtfelsen als Aquarell. Ja, es gibt Menschen, die machen einfach und können einem nah sein, auch wenn sie meistens fern sind. 

Eine Kranke durfte ich ja auch noch besuchen. Und was ist ein Krankenbett ohne Blumenstrauß? Nichts! Eine Kranke, der es Gott sei Dank schon viel besser geht. Dies konnte man am leuchtenden Kleid, Lachen, Hunger und Humor erkennen. Auf dem Rücken liegen is noch nicht, aber das wird bestimmt auch bald wieder. Einen kleinen Spaziergang über den Flur konnten wir schon mal unternehmen. Morgen geht es in den Park, nach Kaffee und fetter Himbeertorte. 

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