Dass ich über Wilfried heute schreibe, bietet sich an: Er hatte am 08. August Geburtstag. Er wäre 59 geworden. Wilfried ist ist vor vier Jahren an den Folgen seiner Lungenkrebserkrankung in Valencia / Spanien gestorben.
Ich habe meinen Bruder geliebt. Vielleicht sogar ein klein wenig bewundert. Für seine Konsequenz, sein ständiges Nachvorneschauen, seine Überlebenskunst. Er hat sich durch Erfahrungen nicht kirre machen lassen. Als „schlecht“ hätte er Erfahrungen niemals bezeichnet. Hatte er sich mal eine Meinung gebildet, über egal wen oder was, wurde sie auf Teufel komm raus vertreten. Sagen wir mal so: Es war sehr schwierig ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Sicher bin ich mir da aber nicht, weil ich ihn schon viele Jahre nicht mehr gesehen habe. Ein paar Telefonate und E-Mails und die zurückliegenden wenigen Erlebnisse mit ihm müssen für eine Charakterstudie ausreichend sein.
Er war so anders, wie alle meine Geschwister. Heißt das vielleicht, dass ICH anders bin und die anderen sich ähnlich? Wilfried war ein Hallodri, ein Spieler, ein Geschäftemacher, ein kleiner Pate. Er kam als junger Kerl nach Stammheim ins Gefängnis, weil er nach mehreren Einbruchsdelikten einen bewaffneten Raubüberfall verübte. (Beim Rauslaufen aus dem Tante-Emma-Laden knallte er direkt die Arme von zwei Streifenpolizisten.) Drogensucht war dabei die Hauptmotivation. Meine Mama hatte mal ein Päckchen mit weißem Pulver die Toilette runter gespült, dabei flippte er völlig aus und hätte sie fast verdroschen. Verständlich! Rauschten da nicht ein paar tausend Mark mir nix dir nix in die Kanalisation dahin. Da kann man durchaus mal die Nerven verlieren. Um sich vor der Bundeswehr zu drücken und seine Abenteuerlust zu befriedigen, zog es ihn wie viele andere zur damaligen Zeit nach West-Berlin. Davor hatte er noch eine Kellner-Lehre im Zeppelin-Hotel in Stuttgart hingeschmissen. Diese Lehre hatte er ohne Schulabschluss ergattert. Er war in Sachen Service ein Naturtalent: charmant, eloquent, geschickt. Später arbeitete er oft als ungelernte Kraft in der Gastronomie. Seinen Erzählungen zufolge, soll er wohl NENA in der Zeit gevögelt haben. Zuzutrauen wärs ihr ja. In den 80ern war Berlin spannend: Punk- und Hausbesetzer-Szene, Keine Macht für niemand, Mauer und Christiane F. Mittendrin Wilfried. Ich denke mal, dass er das überlebt hat, ist schon eine Leistung für sich. Zurück in Stuttgart heiratete er Wilma, die ihn für eine Weile etwas zentrierte. Beide wurden sowas wie Ersatzeltern für mich, als meine Mutter 1991 starb. Ich war zum damaligen Zeitpunkt erst 21. Sie regelten die Beerdigung und unterstützten mich bei der Renovierung der Sozialwohnung. Die Berechtigung dort in Stuttgart-Rot weiterhin wohnen zu bleiben, fiel automatisch an mich. Coole Rechtsprechung! Mein Bruder wurde zu einem Kette rauchenden Alkoholiker und flüchtete aufgrund von Wirtschaftskriminalität nach Venezuela. In Caracas handelte er wieder mit Drogen. Es war ein einziger Anruf, die meine Ehrerbietung schlagartig zu Nichte machte. Er brauchte dringend 500 Mark. Stand wieder kurz vor dem Knast. Ich lieh sie mir bei einem Kumpel und wies sie per Western Union an. Gebühr 50 Mark. Es kamen also „nur“ 450 bei ihm an. In einem darauffolgenden Telefonat beschimpfte er mich anstatt mir zu danken. Ab diesem Augenblick wusste ich, dass er erstens gewaltige Probleme hatte und zweitens ich ihn ab sofort nicht mehr liebte. Als Unternehmer (Heizungsbau) steckte er mir hin und wieder etwas Geld zu: „Junger, do hosch bissle Money, gelle! Frog aber net wohers kommt, gelle!“ Dass er mir seine kleinkriminelle Pfote nicht noch darreichte, um seinen Ring zu küssen, war aber auch alles: der Pate von Stuttgart-West. Ich konnte einfach nicht mehr mit ihm. Seine Sprache (Wenn i unserem Vadder seh, hau i ihm so uff de Schädel. Mei Bruder Martin, des Arschloch, kann uff der Stroß verrege, des isch mir egal), seine Sucht (3 Schachteln Kippen und 2 Flaschen Weißwein täglich) und seine selbstgerechte Art (Des weiß i gnau, brauchsch mir nix verzähle, Psycho oder waaaas!) war mir zuwider. Während meiner Erkrankung vor 10 Jahren hatten wir wieder Kontakt. Wir schrieben uns recht regelmäßig. Es war ambivalent. Einerseits freute ich mich über seine Zeilen, über seinen unbeholfenen Versuch mir etwas Lebensmut zu schenken; auf der anderen Seite gerieten wir wieder ins alte Fahrwasser und ich wurde wieder mal enttäuscht. Er, der nicht zurück blickende Vorurteil behaftete Proletarier und ich, der um Antworten ringende „Kloine“. Anfänglich ließ ich ihn noch meinen Blog mitlesen, dann änderte ich das Passwort. Er wurde mir wieder zu viel. Kurz vor seinem Tod im Februar 2017 telefonierten wir. Auch mit der Diagnose hatte er das Rauchen nicht aufgegeben. „Woisch Junger, muss i mi wundere, i hab geraucht und gsoffe wie oin Weldmeischder. Jetzt brauch i auch neme aufhöre.“ Wir kamen miteinander leider immer noch keinen grünen Zweig. Ich hatte vor, ihn noch in Valencia zu besuchen, aber ich habe die Kurve nicht gekriegt. Wahrscheinlich mehr oder weniger absichtlich. Zum Schluss hatte er mit seiner Frau Verenice, die er in Venezuela kennen gelernt hatte, spanische Immobilien in einem Supermarkt an deutsche Rentner verkauft. Ich weiß, er hätte sich über meinen Besuch gefreut. „Kloiner, dann lossemer nomol die Sau raus!“
Typisch für ihn: Er hat seinen Körper der Klinik vermacht. „Woisch Junger, des isch die sauberschd un billigschd Angelecheheit.“ Jetzt stehen irgendwelche Körperteile von ihm in Gläsern in der Pathologie einer Uniklinik. Auch eine Idee! Man hat einen Nutzen und ist nicht weg!
Wie sehr hätte ich mir einen „normalen“ Bruder gewünscht, der mit mir zusammen unsere familiäre Vergangenheit aufarbeitet. Fehlanzeige! Gut, ich bin vielleicht auch nicht so ganz normal, aber Knast, Spielautomaten und harte Drogen waren dann doch nicht so mein Ding.
Hey Wilfried, sorry dass ich mich nicht aufraffen konnte, dir in deinen letzten Stunden beizustehen. Ich hätte über meinen Schatten springen müssen. Es hätte bestimmt uns beiden gut getan. Ich konnte mit dir nichts mehr anfangen - „kloiner Junger“ hin oder her. Ich denke aber manchmal an dich und ich zwinge mich, mich vorwiegend an die guten Zeiten zu erinnern. Ich bin dir dankbar, dass du mir damals mit Wilma aus der Bredouille geholfen hast. Dein eingeschlagener Weg war aber nicht meiner. Wir beide waren leider zu unterschiedlich. Das hast du immer ausgeblendet. Ich hoffe, du warst am Ende mit dir im Reinen. Qualm die Bude da oben nicht so zu und lass die Finger weg von den Spielautomaten. Saufen kannst du so viel du willst, bist ja schon tot. Ich lege jetzt A Million Miles Away von Rory Gallagher auf, eins deiner Lieblingsstücke.
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