In der ZEIT gibt es aktuell eine Serie, in der Redakteure ihre „Lebensbücher“ vorstellen. Bücher können einen beschützen, retten, inspirieren, in andere Welten entführen. Man kann tatsächlich durch Bücher mehrere Leben absolvieren. Mir geht das zumindest so. Es gibt so viele Themen und spannende Autoren“innen zu entdecken, dass es oft eine Qual ist, sich zu entscheiden. Manchmal ist auch ein Wink von außen für die Auswahl hilfreich. Ich kenne eigentlich nur Frauen, die lesen und über ihre Lektüre sprechen. Männer in meinem Umfeld scheinen außer eine Bedienungsanleitung nichts zu lesen. Wir sprechen von Gleichberechtigung, aber ich bin der Meinung, dass die sich nur herausstellen kann, wenn Männer mehr Belletristik lesen würden. Sachbücher reichen hierfür nicht. Auf der emotionalen Ebene werden sich die Geschlechter niemals angleichen. Die Frage ist: Wollen wir das überhaupt? Wenn Frau und Mann permanente über Gefühle reden, wird’s auch anstrengend.
Nun möchte auch ich die Reihe „Bücher meines Lebens“ hier eröffnen.
Heute: Stiller. Für das Abitur durfte ich diesen großen Weltroman lesen. Ich war froh, da ich schon das berühmte Theaterstück „Andorra“ kannte und ich in der 10. Klasse der Realschule viel über den Autor Frisch kennenlernen durfte. Vielleicht lag es auch an meiner damaligen tollen sexy Deutschlehrerin, dass ich so begeistert war. Auf jeden Fall war ich auch hier wieder vom Plot des Romans fasziniert. Ich hatte immer schon einen Faible für Belletristik mit philosophisch-psychologischen Aspekten. Und Stiller war MEIN Thema. Zumindest zu damaliger Zeit mit 27 und vielleicht heute noch - 25 Jahre später.
Der Roman ist vielschichtig. Man liest ihn nicht einfach mal so. Ich bin in der Regel nicht dafür, Literatur hemmungslos zu Tode zu analysieren, aber damals war das genau das Richtige für mich. Die Stunden der Diskussion, der Darlegung des fremden und eigenen Weltbildes empfand ich als pure Freude. Tja, viele meiner Mitstreiter*innen teilten leider nicht dieses Glücksgefühl mit mir. Der Deutschkurs bestand, wie so oft, nicht aus „überzeugten“ Leistungskurslern, sondern eher aus Zufallsprodukten.
Der Tagebuchroman behandelt gleich mehrere Themen. An zentraler Stelle steht die Bildnisproblematik: Wie sehen mich die Menschen? Welche Rollen nehme ich im Laufe eines Lebens ein? Was gebe ich vor zu sein? Was ist wahrhaftig an mir? Wer bin ich tatsächlich? Ich glaube, ich werde noch aus dem Grab heraus rufen: Ich bin nicht Schnur. Je älter man wird, desto weniger muss man den anderen und vor allem sich etwas vormachen. Daran halte ich bis heute fest. Daher ist das Älterwerden doch ein schönes Ziel!
Beziehung(en) stehen natürlich ebenfalls im Mittelpunkt des Textes:
der Wunsch nach Selbstverwirklichung und die Unvermeidbarkeit der gegenseitigen Abhängigkeit. Man muss sich jeden Tag von Neuem bewähren und hat Schwierigkeiten seine Defizite und die des geliebten Menschen anzuerkennen. Man modifiziert Geschichten, um sich größer werden zu lassen. Oder man hat keine Sprache für sein Ego, weil man sich zu weit von ihm entfernt hat. Das Glück besteht eigentlich darin, sich und anderen nichts mehr vormachen zu müssen. Man benötigt ein ausgeglichenes Wesen, um unscheinbar wirken zu können.
Ein wichtiges Stichwort ist auch „Wiederholung“ - unvermeidbar im Erlebtem und Gesagtem. Stiller kämpft gegen diese Wiederholungen an und scheitert. Frisch hasst Wiederholungen. Mir kommt es vor, Wiederholungen nehmen mir Lebensqualität. Das abwechslungsreiche Leben ist doch so viel spannender. Ich kann nicht verstehen, dass Menschen jedes Jahr zum gleichen Campingplatz reisen. Ich glaube, an der Art des Reisens kann man innere Strukturen ablesen. Wer in ein Land fliegt, um sich dort
wiederholt an den Swimmingpool zu legen, hat einen sehr begrenzten Horizont und benötigt scheinbar stets ein sicheres bekanntes Umfeld, um sich erholen zu können. Ich möchte nicht Stiller sein, sondern der Abenteurer James Larkin White.
Der Roman hat mir so viel über mich und meine Sicht der Dinge offenbart, dass ich jedes Wort nicht nur las, sondern geradezu aufsog. Ich wurde bei der Lektüre zur Hauptfigur des Romans. Wenn man mich jetzt kennen möchte und denkt, na dann lese ich jetzt mal den Stiller, dann kann das leider nicht funktionieren. Man müsste die gleiche Perspektive wie ich auf den Inhalt haben. Und die hat man eben nicht. Wer möchte schon ein anderer sein, als er selbst.
Stiller war aber heilsam für mich, da ich mich durch die Figur endlich verstanden fühlte. Wie in einer Zwei-Mann-Selbsthilfegruppe. Wenn man vor nicht allzu langer Zeit Vater geworden ist, seine erste große Liebe getroffen und sich beruflich an einem Wendepunkt befunden hat, können literarische Therapiestunden ganz hilfreich sein. Frisch, seine Texte, seine Art zu denken, wurde mein ständiger Begleiter. Auch im Studium nahm ich ihn als Prüfungsthema, und im Referendariat war meine erste große benotete Unterrichtseinheit „Andorra“. Ein perfekter Lauf. Natürlich ist man dann ein wenig enttäuschter, wenn das Ergebnis keine 1,0 ist, weil irgendwelche daher gelaufenen Beurteiler*innen nicht das selbe Herzblut an dem Gezeigtem verschwendet haben, Aber das ist egal, wenigstens hatte man Spaß bei der Vorbereitung. Ich würde jedem Studenten/ jeder Studentin empfehlen, sich stets ein Feld zu suchen, das ein Teil von einem selbst ist. Darin wird man garantiert erfolgreich sein. Und wenn das Ergebnis unter den Erwartungen zurückbleibt, dann hat einem das Arbeiten wenigstens Freude bereitet.
Ich kann den Roman nicht empfehlen. Er ist speziell. Man muss sich mit sich und den dortigen Themen auseinander setzen wollen. Wie ein Suchtkranker, der endlich anerkennt, dass er ein Problem hat. Erst dann kann sich etwas Positives entwickeln. Wenn man über sein Selbst- und das Fremdbildnis noch niemals nachgedacht hat, ist es eine Totour diese 448 Seiten Verweigerungsstrategie eines Narzissten hinter sich zu bringen.
„Heute weiß ich, nur die Selbstannahme beschert mir ein zufriedenes Dasein. Ein anderer sein zu wollen, führt unweigerlich ins Unglück.“ (Max Frisch)
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