Achterbahn

Das Bild der Achterbahn passt zu meinem Zustand / meinen Zuständen in den letzten Tagen. Ein ständiges Auf und Ab. Vor dem 3. Zyklus bin ich einigermaßen fit. Natürlich lässt die Kondition zu wünschen übrig, aber ich kann so gut wie alles machen, was ich mir vornehme. Schließlich fährt man wieder langsam Richtung nächsten Looping. Oben angekommen, saust man mit Karacho holpernd ins Tal. Manchen Menschen macht das Spaß - mir nicht. Die Übelkeit während der Achterbahn ist die gleiche Übelkeit, die sich einstellt, wenn die Therapie beginnt.  Dann klingen die Unangenehmlichkeiten ein wenig ab, und es folgt ein noch viel krasserer Looping. Alles im Körper wird durcheinander gewirbelt. Nici meinte, als sie ihre kühle Hand auf meine Stirn legt, sie fühle meine Kopfschmerzen. Diesmal entwickelte ich sogar am Abend leichte Temperatur - 38 C. Das Fieber ging aber gleich wieder runter. Alles ist nicht wirklich schlimm. Irgendwie auszuhalten. In der Summe einfach unangenehm. Man fühlt sich eben krank. Der Fels wird zu einem Kieselstein. Und nun versuche ich mich Schritt für Schritt wieder aufzurappeln. Bis jetzt ist das ja immer ganz gut gelungen. 


Die Fahrerei hat wieder prima geklappt. Wunderbare Menschen kutschierten mich da in den letzen 3 Tagen in die Klinik. Mein Kumpel Manne sprang kurzfristig am 1. Tag ein. Das ist natürlich ein Selbstläufer. Ich merke bei ihm, dass er sich auch an einem Wendepunkt befindet, sowohl beruflich als auch privat. Vielleicht hat es auch ein klein wenig mit meiner Situation und meinen Sichtweisen zu tun. Was ist wirklich wichtig? Wie erlangt man Lebensqualität zurück? Soll die Arbeit tatsächlich im Mittelpunkt des Lebens stehen? 


Anja und Tom, meine ehrenamtlichen Kollegen aus der Hospizarbeit, haben ihren Job auch klasse gemeistert. Es war eine Bereicherung 3 Stunden mit ihnen zu verbringen. Es war keine Minute langweilig. Toll war es für mich, mitzubekommen, dass man wohl mein Blog liest. Das konnte ich daran erkennen, dass man auf den Blog bezogene Fragen gestellt hat. So mag ich das: Begegnungen, die nicht oberflächlich sind, die Gehalt haben. Es ist ein sehr schönes Gefühl, wenn man auf aufrichtiges Interesse stößt, wenn man „gesehen“ wird. Viele Menschen drehen sich nur um sich selbst. Sogar Menschen, die einem nahe stehen. Das merkt man recht schnell. Es ist dann ein Gespräch, das oft keines mehr ist, sondern in einen Monolog mündet. Wenn man realisieren würde, welchen positiven Effekt sich ergibt, wenn man mal eine emphatische Frage stellt oder ehrlich nachfragt. Hier meine ich nicht das antrainierte Programm, das man automatisiert abspult. 


Jetzt werde ich erst mal den Klinikgeruch von mir abduschen. Das gehört auch zu den oben erwähnten Schritten. Dann muss ich sehen, was der Tag so ergibt. Wahrscheinlich weiterhin viel schlafen und trinken, trinken, trinken. Das Leben bleibt schön, trotz allem. 


Schlafen und Ruhe! Mehr geht gerade nicht! Nici schmeißt den Laden: von Einkaufen bis lecker Kochen. Zuzüglich 2 Schluck Smoothie. Muss bezüglich Übelkeit ein wenig vorsichtig sein. Es ist ein schräger Zustand, zwar Gelüste zu haben, aber dennoch im Hintergrund immer die Übelkeit aktiv bleibt. Ganz leicht. Genauso ist es mit der Kondition. Eigentlich habe ich Lust, mich zu bewegen, aber mein Körper streikt. Und wenn ich zu viel liege, geht noch mehr Kondition flöten. Für alles hat man noch zu wenig Körner. Dass das Zeug einen gesund machen / heilen soll, ist schon echt irre. Eigentlich sollte ich positiver berichten, da viele Angst vor einer Chemotherapie haben, sich sogar der Behandlung verweigern. Ähnlich wie bei den Impfgegnern. Es gibt Momente, da denke ich tatsächlich daran, den Scheiß abzubrechen. Aber dann geht es mir ja auch schnell wieder besser. Wenn mein „Kranksein“ dauerhaft bestehen bleiben würde, wäre ich mir nicht mehr so sicher, was ich tun würde. Irgendwann hat man einfach keine Lust darauf, ein anderer zu sein. Schwach und zu nix zu gebrauchen. Ich muss immer daran denken, wie ich die Sache vor 10 Jahren nur überstehen konnte. Das war doch alles noch viel schlimmer als jetzt: Leukos gegen 0, hab die 500 Meter zum Hausarzt kaum geschafft. Heute kann ich jeden Montag 15 km radeln. Was jammere ich also rum, ist doch alles gut. Wird man mit dem Alter wehleidiger, pessimistischer? Vielleicht habe ich mehr Stärke in den letzten Jahren errungen und ich kann es nicht ertragen, diese Stärke wieder einzubüßen. 


Ich habe eine Erinnerung auf Facebook heute geteilt: unser erster Klettersteig in der Sächsischen Schweiz - vor einem Jahr. Am 24.07.2020 haben wir gemeinsam Stärke bewiesen. Ein unvergesslicher Tag. Ich dachte: Mensch, Alter, du bist über 50 und kannst echt noch was reißen, über deine Grenzen gehen, deine Ängste besiegen. Solche Tage brennen sich ins Gedächtnis. Ja, ich sage mir natürlich wie meine Liebsten ständig vor, da kommst du wieder hin, Alex. Nur: Es gibt leider keine Garantie. Wir sehen um uns herum, wie fragil das Leben ist, wie schnell es aus den Fugen gerät. Entweder hat man das Chaos selbst mitverursacht oder es ist über einen gekommen, ohne eigenes Verschulden. Ich habe schon sehr viel Glück gehabt. Wie sehr kann ich Fortuna noch strapazieren? Ich bemühe mich. Ich bemühe mich, hoffnungsfroh zu bleiben. Nici und Anna und viele andere helfen mir dabei. Es gibt aber so viele Menschen, die sich nicht äußern, die ihren Kummer, ihren Zweifel mit sich ausmachen, die im Stillen leiden und sterben. Es gibt auch bei mir viele, die mittlerweile nicht mehr nachfragen. Aus welchen Gründen auch immer. Ich konnte die Aufrufe gestern in der Spenden-Gala in der ARD nachvollziehen: Bleiben sie in den nächsten Wochen, Monaten weiter am Ball. Verlieren Sie bitte nicht ihre Empathie. Vergessen Sie uns Flutopfer nicht. Das Vergessen ist eine gute Einrichtung im Kosmos der menschlichen Psyche, aber manchmal auch ein Fluch. Wenn wir das Leid uns immer vor Augen führen würden, müssten wir doch unweigerlich verrückt werden. Wir brauchen Abstand, um zu überleben. Manche ignorieren bewusst das Leid der anderen, weil sie wissen, dass es ihnen nicht gut tut, sich damit zu beschäftigen. 

Es gibt aber auch wunderbare Geschichten in dem ganzen Elend: Ein Mann, dem sein Ehering weggeschwemmt wurde. Beim Schlammwegschippen findet er ihn wieder. Vor einem Millionenpublikum ist er den Tränen nahe, als er seine Geschichte erzählt. Macht seiner Frau eine Liebeserklärung und äußert die Gewissheit, den Wiederaufbau gemeinsam zu schaffen. Unzählige solcher Geschichten gibt es. Meine Geschichte ist, dass mir bestimmte Menschen in den letzten Monaten viel näher gekommen sind, dass ich in einem Alter Freunde dazu gewonnen habe, in dem man in der Regel keine neuen Freunde findet. Man ja manchmal die Zeit gar nicht hat, alte Freundschaften zu pflegen. Ich hasse meine desolaten Zustände, möchte sie aber nicht missen. Mir ist durch die Diagnose einiges klar geworden. Es gibt nichts Wichtigeres als der gegenseitige Zusammenhalt, als das gegenseitige Stützen. Im Job ist man austauschbar, eine Nummer. Normal! In der Familie, im Privaten nicht. 

Ich nehme seit der Hochzeit meinen Ehering nie ab. Das werde ich weiterhin nicht tun. Man weiß ja nie. Wenn ich es so recht überlege, möchte ich eigentlich gar nicht verbrannt werden, dann würde ich ihn ja nicht mehr tragen können. 


Häntzschelstiege 24.07.2020

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