Internet, i love you!

Was ich am Internet so mag? Als Zeitschriften -und Magazinfreak habe ich jederzeit Zugriff auf das ganze Spektrum der Printmedien. Kann mir das Magazin der Süddeutschen für 1 Euro in 5 Sekunden in einem nervigen Café in Karlsruhe runterladen, wann ich will. Oder eben die Süddeutsche selbst. Im Stern lese ich schon seit Jahren gern die Kritiken neuer Filme, Bücher oder Platten. Im Prinzip lese ich den Stern nur wegen dieser kleinen coolen Texte. Jede Zeitschrift hat solche Rubrik-Juwelen. Äh, jede außer BILD! 

Das eigene Radioprogramm zusammenstellen, wer hätte das noch vor 20 Jahren für möglich gehalten. Jederzeit hören, was man will. Rund um die Uhr. SWR2 Wissen oder Impuls, DLF-Hintergrund oder Kontrovers. Jazz um Mitternacht oder Klassik um 12. Das Feature ist auch oft hörenswert. Und natürlich Interviews, Interviews, Interviews. Alles kann man nachhören, während man Stumpfsinniges im Haushalt verrichtet. Sogar die geschichtsträchtige Rede Richard Von Weizäckers in der Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestags zum 40-jährigen Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa. Beim Kloputzen. 


Und weiter mit den Wundern des Internets. Kultur, wann immer man Lust dazu hat. Led Zeppelin in Montreux 1970, Luciano Pavarotti in der Metropolitan Opera 1980, Ed Sheeran in Baden Baden 2012. Immer abrufbar. Herrlich! Kein Vergleich zum Liveerlebnis, aber immerhin. Auch legendäre Theateraufführung kann man sich rein tun: Zadek, Müller, Peymann, Berliner Schaubühne, Hamburger Schauspielhaus, fantastisch! Oder darf es einen digitalen Rundgang im Louvre sein? 

Netflix Amazon Prime, ZDF-Mediathek: Serienmarathon bei Bedarf und gutem Händchen jeden Abend! 

Kommunikation: sagenhafte revolutionäre Veränderung durch Email und WhatsApp. Das Tippen ist das alte Telefonieren. Jederzeit ist es möglich,  sich in den Alltag des anderen hineinzutippseln oder ihn/ sie mit seinem Alltag zu nerven. Überlegt oder auch weniger überlegt. 

Die erleichterte Kontaktaufnahme mit Behörden und Versicherungen ist in vielerlei Hinsicht auch ein Segen, zumindest für mich ganz persönlich. 3 Kreuze, 1 Klick und zisch - schon ist der Antrag auf einen Schwerbehindertenausweis gestellt, ohne sich in hässlichen Gängen anstellen zu müssen. 

Auch Dinge in der Gruppe zu organisieren wird elementar vereinfacht: Privattaxis nach Heidelberg kein Problem! Bier um vier? Gebongt! Weltumspannende Kommunikation als lockere Freizeitbeschäftigung morgens, mittags, abends leicht und schnell umzusetzen: Ich kann z. B. mit einem an den Rollstuhl gefesselten jungen Mann in Sydney eine Partie Schach bei Gameknot online spielen und mein Englisch dabei auffrischen. Kann sowohl interessante und gewöhnliche Posts kommentieren, kann Ansichten mit Freunden oder Wildfremden austauschen, meine Meinung der ganzen Welt auf der ganzen Erde kundtun und auf erhellende Rückmeldungen hoffen. Ich habe Angst! Was, du auch? Das „Word Wild Web“ als permanente Selbsthilfegruppe. 

Oder das WWW natürlich als unerschöpfliches Fortbildungsseminar nutzen: Wie geht nochmal der Windsorknoten? Welche Tricks beim Steuern des Fliewatüüts kann ich anwenden? Wie schreibt man „Anthropozän“? Darf man sein Kind Adolf nennen? Überlebenswichtiges Gesundheitsweltwissen einholen, mit anderen teilen - gibt es Sinnvolleres? Blogs aus dem inneren des Körpers und des Geistes oder aus Krisengebieten, egal, jederzeit hat man Zugriff darauf! 

Thomas Gerst kann uns direkt von der ISS dazu anspornen, mit der Erde pfleglichen umzugehen. Wir können live an seinem Astronautenalltag teilnehmen. Hirschhausen  kann uns das würdevolle Sterben im Hospiz vor Augen führen. Wir können mit jeder Kreatur mitfühlen, sitzend auf der Couch oder plantschend in der Wanne. 

Ich liebe es, hier meine Gedankenwelt ausführlich und kreativ preis zu geben. Mich psychisch auszutoben, mich zu outen: Keine Panik Leute, auch ich habe ein Icke am Start! Es ist spannend und therapeutisch für mich, all meine Gesichter zu zeigen; dadurch die Möglichkeit zu erhalten, dass mein „tatsächliches“ Wesen ein wenig mehr wahrgenommen wird. Wann erfährt man schon, wie jemand über Religion oder den Tod denkt? Und ich daraufhin Reaktionen auslöse. Ob gute oder kritische sei mal dahingestellt. Wenn ich es will, kann ich es. 

Ich nutze das Internet seit der ersten Stunde. Meine erste Email schrieb ich 1997 im Rechenzentrum der Uni Landau. Die dortigen Zentralrechner benötigten zwei große Räume. Das Modem krächzte so laut, dass man sich gegenseitig kaum verstand.  Alle fanden wir diese Technik unfassbar und staunten immerzu. Vor Online-Banking hatte ich nie Angst. 25 Jahre mache das jetzt schon, noch nie ist mir auf dem kriminellen Weg ein Cent weggekommen. Nun kann ich mit meiner Uhr bezahlen oder mit meiner Bankberaterin telefonieren. Warum will ich das? Diese staunenden irritierenden Blicke - es gibt nichts Schöneres für einen Clown!

Internet und die Liebe. Friendscout und Finya bescherten mir schöne, aber auch extrem schräge Begegnungen. Schnur im Feldforschungsmodus. Ich habe von Sexpraktiken Abstand genommen, die konnte ich nicht mal buchstabieren. Und was soll ich sagen, das Internet hat mir die Liebe meines Lebens ins Haus gebracht. Ein paar Tage intensiv gechattet, gemailt, gehört, und dann gesehen, geliebt, zusammengezogen. Wenn man das Medium auf den Kern reduziert,  ist es nichts Anderes als eine Zeitungsannonce. Auch da kann man seine Identität verschleiern.  Auch da kann ich hinters Licht geführt werden. Man muss das nur durchschauen und mutig genug sein, Nägel mit Köpfen zu machen. Spring mit nem Mädel nach einer durchzechten Disco-Nacht in die Kiste, und sie kann mittags genauso als Psychopathin aufwachen. Auf den Internetplattformen hat man das Profil. Und damit kaufe ich etwas weniger die Katze im Sack. Also bei uns hat das prima funktioniert. Nicole hat sogar ein kleines Buch aus unserer Anfangszeit gemacht. Dort kann man alle Emails, Handynachrichten und Dates nachlesen. Und das Wunderbare: Wenn wir den Schriftverkehr und die Fotos der ersten Treffen von Zeit zu Zeit hervorkramen, dann ist es wie, als würden wir uns von Neuem ineinander verlieben. Meistens lachen wir zusammen, weil man natürlich auch richtig lustige Sachen geschrieben hat. Es war so ein Hype, dass ich es auf dem Weg von der Schule bis nach Hause nicht abwarten konnte und ins Internetcafe‘ gegangen bin, um dort stundenlang infantil den Bildschirm anzugrinsen. Wir haben an einem Date gemeinsam mit einem Klick unser Profil gelöscht. Dieser feierliche Mausklick hat uns vergewissert, dass wir ab sofort ein Paar sind. Ich habe später sogar ein Dankesbrief an Finya verfasst, und die Macher, wenn ich mich recht entsinne, heilig gesprochen. Nun wisst ihr, warum ich das Internet so liebe. 


Zusatz: Diesen schriftlichen Erguss fabriziere ich von 02.30 Uhr bis 05.00 Uhr, lade es in ein paar Stunden hoch, so dass ihr ihn beim ersten oder zweiten Kaffee lesen könnt. Ist das nicht einfach mega cool? Wollen wir die Fortschrittsuhr echt nochmal zurückdrehen? 



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