Entbehrungen und Streit

Wir alle scheißen mehr oder weniger jeden Morgen. Ein Ritual, dem wir in der Regel keine größere Bedeutung zumessen. Die einen nehmen es als täglichen Programmpunkt hin und die anderen machen das Geschäft ihres Lebens. Ich bin ein regelmäßiger Genuss-Stuhlmacher. Startpunkt in einen guten Tag. Und die Tage sind meistens gut. Die letzten 3 waren es aber leider nicht. Wie bei den Kopfschmerzen muss ich mich daran erstmal gewöhnen, da ich so etwas überhaupt nicht kenne. Es ist auf jeden Fall sehr unangenehm. Die letzte Nacht konnte ich phasenweise in keiner Position liegen ohne Schmerzen. Leichte Dauerübelkeit begleitete das Darmgepiekse. Da ich aber heute Morgen wieder den ersten Kaffee seit Tagen zu mir nehmen konnte und mir für meine Verhältnisse richtig gut ging, hat sich plötzlich auch die Verstopfung erübrigt. War zwar nicht wie gewohnt, aber es „war“ zumindest. Ich halte fest: Kaffee ist lebensnotwendige Medizin. Ich kann sie leider so kurz nach der Chemotherapie nicht zu mir nehmen.  


Einige von uns verzichten einmal im Jahr: in der Fastenzeit. Entweder religiös-esoterisch motiviert oder aus einem Gesundheitsbewusstsein heraus. Man kann es sich gut vorstellen, dass man durch Verzicht ein Anderer wird, wenn auch nur in der Zeit der Entbehrung. Wir hatten die letzten Tage kein warmes Wasser. Zusätzlich konnte ich in den Tagen der Infusion nicht duschen, da an mir die Portnadel noch hing. Die erste heiße Dusche nach der Chemoprozedur und nach der Reparatur der Heizung war wie ein Segen. Mir ging es im Prinzip körperlich nicht wirklich besser, aber ich stieg sehr zufrieden aus der Kabine. Ich hatte für einen Augenblick die Kontrolle wieder erlangt. Wir nehmen so vieles als selbstverständlich hin. Das ist wohl ganz normal; man darf dieses Verhalten niemandem vorwerfen. Wir werden von unserer eigenen Art des Lebens (im Überfluss) eingelullt, sediert. Nur wenn das Schicksal uns etwas Elementares wegnimmt oder uns bedroht, denken wir eventuell um, und schätzen plötzlich viel mehr das, was wir haben oder nicht mehr haben. Unter der heißen Dusche wurde mir plötzlich bewusst, welche Entbehrungen Flüchtlinge in überfüllten Lagern auf sich nehmen müssen. Wir sehen und hören Berichte über das Elend, aber es lässt uns kalt. Kurzes Mitleid, das war’s. Oder wir entscheiden, solche Berichte einfach zu ignorieren und während des Voraugenhaltens auf dem Handy rumzutippen, uns abzulenken. Auch das ist verständlich. Verinnerlicht man das (zutiefst ungerechte) Elend der Welt, wird man womöglich verrückt. Ich bin fest der Überzeugung, lernen wir nicht zu verzichten, hat unsere Welt keine Chance. Gelingt es uns nicht, wenigstens für mehrere Momente als nur in der Fastenzeit kürzer zu treten, dann gibt es keine Rettung. Ich kann absolut nachvollziehen, was in Greta Thunberg vorgeht: Durch ihren Autismus und ihre „Übersensibilität“ verinnerlicht sie das Elend, das wir Tag für Tag heraufbeschwören und wird dabei langsam aber sicher wahnsinnig. 


Streit kenne ich auch nicht. Nicht mehr. Im Prinzip seit ich Nicole kenne. Mein Heranwachsen wurde von Streit meiner Eltern oder Geschwister begleitet. Später gab es in Beziehungen viel Streit. Ich habe das so gehasst. Streite ich, möchte ich mich sofort wieder versöhnen - und lenke ein. Man könnte mich als streitbaren Menschen bezeichnen, weil ich meine Meinung nachdrücklich vertrete, kann aber gar nicht streiten. Es macht sich sofort ein Unbehagen bemerkbar, stufe ich eine Auseinandersetzung als Streit ein. In meiner Kindheit habe ich oft gedacht, meine Eltern fetzen sich, weil ich etwas falsch gemacht habe. Wenn es zu diesen heftigen unversöhnlichen Auseinandersetzungen kam, fühlte ich mich immer hundeelend. Ich wurde häufig dann auch als Sprachrohr missbraucht: Sag mal deinem Vater..., sag mal deiner Mutter...Wenn ich so zurückdenke, hätte Loriot viel Material aus dem Wirken unserer Familie erhalten können. Gestern haben Nicole und ich „gestritten“. Ein Außenstehender würde das nicht als Streit ansehen. Ein kleiner Disput vielleicht, aber weiß Gott nicht als Streit. Da wir nie wirklich Auseinandersetzungen über etwas führen, ist ein Disput für mich gleich als Streit einzuordnen. Es ging um die Schlussszene des Filmes „Der Hund bleibt“. Ich fand ihn genau richtig und dem Verlauf des Filmes abgemessen. Nicole war er zuwider. Es war ein Happy End ohne „gezeigtes“ Happy End. Eher nüchtern vorgetragen. Nicole hätte sich wenigstens ein Lächeln oder eine Umarmung gewünscht. Die Ehefrau und Mutter von vier Kindern kehrt nach ihrer Eskapade mit ihrem Lover zurück. Sie war schon am Flughafen mit ihm, um nach Paris abzuhauen. Durch das Manuskript ihres schreibenden Ehemannes wird sie nun veranlasst, ihre Pläne über Bord zu werfen. In dem neuen Roman ihres Mannes wird das chaotische Familienleben mit viel Selbstkritik geschildert und es ist eine Liebeserklärung an seine Frau und an seine Kinder, die ihn, den vor Selbstmitleid triefenden Exzentriker, allesamt verlassen haben. In der Schlussszene kommt nun die Ehefrau überraschend zurück nach Hause und setzt sich zu ihrem Mann gegenüber an den Esstisch. Sie schweigen. Lange. Sehr lange. Er starrt sie nur ungläubig an, eben nicht  lächelnd, nicht liebevoll. Sie macht aber auch keine Anstalten in Gefühlsduselei auszubrechen. Sie hält ihm das leere Weinglas hin. Er ignoriert ihre Aufforderung und schiebt ihr nur die volle Flasche entgegen. Der letzte Satz des Films spricht sie: Scheiß auf Paris, auf nach Rom! Rom ist die Sehnsuchtsstadt von beiden. Dort hatten sie ihre beste Zeit zusammen, ohne Kinder. Ich fand dieses Ende perfekt, auch ohne Lächeln. Obwohl viel gestritten wurde, hat mich die Geschichte fasziniert. Der schwule Hund mit dem Namen Stupide war außerdem auch verdammt cool! 

Mit bissel lecker Blut von Nicole konnte ich heute doch glatt zwei Kilometer absolvieren. Es war sogar eine kleine Steigung dabei. Mir kam es vor, als hätte ich 2O km hinter mich gebracht. Es ist ziemlich schräg, wie der Körper innerhalb von wenigen Tagen abbauen kann, und dann aber auch wieder regeneriert. Psychisch orientiere ich mich natürlich am Positiven, aber wenn man diese Achterbahn bewusst wahrnimmt, ist das nochmal eine ganz andere Nummer. Am letzten Dienstag war ich noch fast eine Stunde auf dem Stepper - unvorstellbar gerade. Zur Unterstützung der Darmtätigkeit gab es Saumagen mit Sauerkraut auf einer Hütte und einen leckeren Apfelkuchen. Es ist schön, sich wieder mit Freunden auf der Hütte treffen zu können. Sehr erfolgreich sogar, da wir zusammen eine gut versteckte Letterbox gefunden haben. Vielleicht kann ich ja bald wieder ein paar Tropfen Müller mit genießen. Nici muss eine ganze Schorle alleine trinken, das ist auf Dauer nicht gesund. Hier ist meine Unterstützung absolut notwendig; ihre Gesundheit liegt mir nämlich sehr am Herzen. 

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