Für die Psyche ist es auf jeden Fall eine Herausforderung innerhalb von Stunden in so eine Achterbahn des körperlichen Zustands gebracht zu werden. Gestern hätte ich in der 95. Minute mit einemSprint über das ganze Spielfeld das entscheidende Tor geschossen und heute konnte ich keinen einzigen Stich machen, wie Robin Gosens. Auf nix kann man sich mehr verlassen. Nachher ist Bendamustindran. Bei mir sindseltsame Hautstellen aufgetreten. Im Beipackzettel steht: Benda löst Hautkrebs aus. Na klasse! Wie gesagt, das Leben ist manchmal sehr unstet und äußerst verwirrend. Ich lass dasmal am Montag
abklären. Dann müsste es mir auch wieder besser gehen.
Wenn ich mich nicht melde oder nichts poste, schlafe ich oder bin auf dem Klo, um den ganzen Scheiß wieder los zu werden. Müsst euch also keine Sorgen um mich machen.
Die Nacht war schwierig. Die Unruhe hat mich kaum schlafen lassen. Das extreme Gewitter hat auch nicht unbedingt beruhigt. Irgendwo ganz in der Nähe muss der Blitzeingeschlagenhaben.Oderbeiuns?Aufjeden Fall haben wir seit heute Morgen kein warmes Wasser mehr.
Ich fühle mich, als hätte mich der Traktor, der vom Nachbar gegenüber jeden Tag akribisch abgebraust wird, 10 Mal überrollt. Ich bin lichtempfindlich und schnellziemlicherschöpft.Nicisagtaber,dassich im Vergleich zu gestern ganz gut aussehe. Ich wäre ein wenig gelb-grün im Gesicht gewesen. Hallo, bin ich vielleicht Hulk! Also alles normal.
14.46 Uhr
Heute war der Verkehr erträglich, sind gut durchgekommen. Mit Deep Purple und das London Symphony Orchestra ist so eine Autofahrt zur Chemotherapie ein richtiges Highlight.
Keine Wartezeit in der Tagesklinik, wollen auch keine Unterlagen mehr sehen, weil sie mich kennen. Werde quasi schon mit dem Bendamustin-Beutel in der Hand begrüßt. Was die Leute hier manchmalfüreine oder besser keine Vorstellung haben, was man organisieren muss, um die Therapie in Heidelberg machen zu lassen. Sie fragt: Kann ihr Fahrer morgen nicht früher, dann hätten wir auchfrüherSchluss?Als ob ich das so spontan alles der Klinik zu Liebe umstellen könnte. Außerdem bin ich froh, wenn wenigstens ein paar Stunden zwischen den Gaben liegen. Kann ich mich wenigstens einklein wenig sammeln. 1 Stunde rauscht das Zeug jetzt in mich rein. Mal sehen, was es diesmal so anstellt. Habe heute morgen in meinem Blog nachgelesen. Nebenwirkungen machten sich das letzte Mal inder Nacht bemerkbar. Sonntags ging es mir schon so gut, dass ich beim Grill-Meeting von Rolf, der mich heute auch kutschiert, dabei war und mir eine homöopathische Schorle-Dosis verabreichen konnte.
15.30 Uhr
Ich bin einfach zu doof für so Hightech-Medizin. Ich vergesse beim Pinkelgang immer den Stromstecker von der Kontrolleinheit des Infusionsständers zu ziehen und reiß mir dabei regelmäßig fast die Portnadel raus. Zu dämlich! Irgendwann geht das noch schief und ich gehe in die Geschichte ein, als der Typ, der sich die rechte Titte beim Aufsklogehen rausriss. Hulk, der Chemo-Kasper, ohne rechte Brustwarze. Hat Hulk überhaupt Brustwarzen?
19.00 Uhr
Hulk hat 2. Tag wieder gut hinter sich gebracht. Alles prima funktioniert. Coole Playliste hat Rolo da aufgelegt. Ein Kracher nach dem anderen. Carolyne Mas, The Who, Eminem, Die Toten Hosen. Ich schätze mal, nach der Runde gibts wieder eine Taxidriver-Playliste.
Mir geht es soweit gut. Keine An- und Ausfälle zu verzeichnen. Mal schauen, was die Nacht so bringt.
21.45 Uhr
Hab ich gesagt, mir geht es gut. Es scheint mir eher die vierte Welle ist im Anmarsch: Hände schmerzen, Kurzatmigkeit, Übelkeit, Darmbewegungen, innere Unruhe, aber auch total platt. Hätte mich gewundert, dass das alles so gänzlich spurlos an mir vorbei geht.
02.30 Uhr
Schüttelfrost, Kopfweh und eine verstopfte Nase kommen noch dazu. Eigentlich müsste ich Fieber haben, so viel Wärme, wie ich ausstrahle. Nicole hält mal wieder Wache bei und mit mir. Jeder Mensch sollte so ein fürsorgliches Prachtexemplar an seiner Seite wissen. Was würde ich nur machen ohne sie? Jeder ist doch eher mit sich selbst beschäftigt und hat gar keine Zeit nach mir zu schauen. Manchmal blitzt Fürsorge auf, aber Zack löst sie sich auch schon wieder in Wohlgefallen auf. Mir ist es ein Rätsel, wie ich das ohne Nicole vor 10 Jahren durchstehen konnte. Ich kann mich noch gut an die Verzweiflung in der Nacht erinnern. Jeden Morgen blinzelte ich der Sonne entgegen und fragte mich: Hab ich’s jetzt endlich geschafft? Es ist klar: Nähe kommt durch Nähe zustande. Es gibt Paare/ Familien, die leben auf dem Papier nah beieinander, und sind sich doch so fremd. Wie ist das erst bei außerhäusigen „Freunden“? Man muss immer „rufen“, sich bemerkbar machen, dass jemand durch die Türe blickt. Wenn es dem anderen gut geht, dann kann man seine Fürsorge ohne schlechtes Gewissen schleifen lassen. Ganz normal. Würde ich auch so handhaben. Meine „Driver“ waren gestern und heute die ersten, die nach Nicole gefragt haben. Und hier war nicht der Rücken, sondern die Situation mit mir gemeint. Das fand ich sehr schön. Sie kommt in der ganzen Gemengenlage viel zu kurz. Dabei gesundet sie mit mir, genauso wie sie mit mir leidet. Sie kann mich aufgrund von Angst nicht meiden.
Ich bin nicht depressiv; ich will nur aufschreiben, was mir durch meinen vernebelten pochenden Kopf geht. Wir sind nicht alleine: Wenn wir rufen, kommt sofort jemand und hilft. Das ist doch auch schon mal was Wert.
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