Vorbilder

Noch 4 Tage bis unsere Kicker das Achtelfinale schaffen und ich wieder an der Nadel hänge.  Habe gehört, dass manche nicht ganz verstehen, wie es mit mir weiter geht. Immer am 29. Tag fängt der nächste Zyklus an. Dann erhalte ich 3 Tage die Medikamente per Infusion. Tag 1 Antikörper Retuximab. Tag 2 und 3 das Zytostatika Bendamustin. Wahrscheinlich werde ich für ein paar Tage erst in den Seilen hängen, um mich dann wieder schnell zu erholen. Vor 10 Jahren ging es mir nach jedem Zyklus noch schlimmer, über die ganze Zeit hinweg. Das ist denke ich anders diesmal, hoffe ich zumindest. Auf jeden Fall vertrage ich das Zeug richtig gut. Stand heute bin ich gefühlt zu 100 Prozent leistungsfähig. Ich kümmere mich in besonderem Maße um Körper und Seele und beherzige die Vorgabe Bewegung, Bewegung, Bewegung meiner Ärztin: Yoga, Crosstrainer, Schwimmen, Fahrrad fahren. Das Wandern kommt gerade ein wenig zu kurz, was aber mit der Bandscheibe von Nici zu tun hat. Es klingt irre: Meine Krankheit gefällt mir hier eindeutig besser. Morgens stehe ich regelmäßig im Bad, grinse mein Spiegelbild an und schüttel mit großem Unverständnis den Kopf, weil ich keinen Boppel in der Leiste mehr spüre und ich Bäume ausreißen könnte. Meine wöchentlichen Blutwerte sind jetzt nicht mit den Werten von Thomas Müller vergleichbar, aber in Anbetracht meines Hintergrunds doch ganz passabel. Das Zusammenspiel mit dem Hausarzt funktioniert auch sehr gut. Es ist wahr, ich habe hin und wieder für ein paar Sekunden ein schlechtes Gewissen, dass es mir so gut geht. Immerhin bekomme ich jeden Monat die vollen Bezüge. Aber vielleicht geht es mir ja auch so gut, weil ich mich eben so umfänglich mit meiner Genesung beschäftigen kann und die nötige Ruhe hierfür habe. Glück im Unglück sozusagen. Man weiß es nicht: Geht es mir gut, weil die klinische Therapie perfekt anschlägt oder fühle ich mich fantastisch, weil ich so rigoros vorgehe und ein sonniges Gemüt besitze. Ich stelle fest, dass ich weniger Post und Nachfragen erhalte, weil die Menschen da draußen wohl davon ausgehen, dass es mir prächtig geht und mich durch meinen Blog gar nicht so wirklich vermissen.  Das ist in Ordnung für mich.  Mit den wichtigsten Leuten bin ich weiterhin regelmäßig in Kontakt. Immer mal wieder erreichen mich ausführliche WhatsApps oder Emails, die besonders sind und mich sehr freuen. Vor allem die Zeilen gehen mir sehr nahe, die sich direkt auf meinen Blog beziehen. Wenn man meine Gedankengänge nachvollziehen oder sogar nachempfinden kann, dann ist das wie ein Geschenk für mich. Wenn ich mit ein paar Einträgen zum Nachdenken und Innehalten anregen kann, dann bin ich zutiefst zufrieden. Nici meinte zuletzt zu mir, dass das Blogschreiben ja irgendwie auch Arbeit für mich ist. Ich verwende schon einige Zeit dafür auf, das stimmt, aber Arbeit? Nein, es ist keine Arbeit! Arbeit ist auch immer mit Unangenehmen verbunden. Schwierige Elternbriefe oder -gespräche, Planungsabsprachen und Korrekturen, das ist Arbeit und sehr ermüdend. Mein Blog ist Freude und Erfüllung. Selbst der Schmerz, das Dunkle von dem ich berichte „heilt“ mich. Es ist wie das anstrengende Erklimmen eines Berges: Auf dem Gipfel mit umwerfendem Rundblick lässt man dann einen lauten Jauchzer los. Fast jede Tätigkeit genieße ich mit allen Sinnen. Es kommt nicht von ungefähr, dass ich mir im Supermarkt einen kleinen Stein-Buddha gekauft habe. Ja klar, total affig, ich gehe es zu. Wenn ich den bei irgendwelchen Yogis sehen würde, würde ich mich bestimmt lustig darüber machen. Trotzdem, die buddhistische Lebenseinstellung und das Mönchtum hat mich schon immer gefühlsmäßig sehr berührt. Warum dann eben nicht vor so einem Stein-Buddha seine Anti-Krebs-Yoga-Übungen verrichten? Die Texte und die Auftritte des Dalai-Lamas inspirieren mich immer sehr. Leider bin ich von meinem Wesen her nicht ansatzweise buddhistisch angelegt. Ein ständiges Versagen innerhalb dieser Religion ist vorprogrammiert. Für diese Religion bin ich eindeutig zu eitel und fluche zu oft. Außerdem liebe ich es zu sehr, Dinge zu besitzen. Dennoch ist mir das Aufgehen im Tun, sei dieses Tun noch so lapidar, nicht fremd. Ich kann es absolut nachvollziehen, dass in Klöstern Gärten angelegt werden. Gartenarbeit ist anstrengend, hat aber eindeutig etwas Spirituelles. Ich würde viel dafür geben, mit dem Dalai-Lama bei einem Grüntee ein Pläuschchen zu halten. Ich hätte so viele Fragen an ihn. Er soll ein ganz bemerkenswerter Mensch mit einer einzigartigen Aura sein. Auch Jesus Christus oder Martin Luther King finde ich klasse. Faszinierende Persönlichkeiten, die Gutes im Sinn hatten, haben mich schon immer gefesselt. Jesus war auch der Grund, warum ich mich mit 14 taufen lassen habe und überzeugter Protestant wurde. Ich fand „den Menschen“ Jesus und seine Ideen phänomenal. Liebe deinen Nächsten ist jetzt ist kein so übler Ansatz für das Zusammenleben der Menschheit. Bloß was mache ich, wenn die Nächsten Nachbarn sind und einen süßen lebensfrohen Kater nur am Band festgezurrt nach draußen lassen. Da stellt Jesus Nächstenliebe eine gewaltige Hürde dar. An Menschen als Vorbilder habe ich mich schon seit ich denken kann orientiert. Wollte es zumindest. In der Theorie bin ich immer besser als in der Praxis. Weil ich eine Sucht nach Vorbilder in mir trage, liebe ich Interviews oder Talkshows wie das Nachtcafé. Zuhören, nachdenken, abwägen, entscheiden, verwerfen, motiviert neue Wege beschreiten, so ist für gewöhnlich die Abfolge nach inspirierenden Gesprächen, denen man beiwohnt. Während meiner Kirchenarbeit als junger Erwachsener habe ich eine Pfarrerin und einen Diakon kennen gelernt. Tolle Menschen! Von ihnen habe ich mehr gelernt als von meinen Eltern, die zu der Zeit ja schon tot waren. Sie haben mir so viel mitgegeben und waren zum großen Teil verantwortlich dafür, dass ich damals nicht auf die schiefe Bahn geriet. Die in der kirchlichen Jugendarbeit gelebte Gemeinschaft hat mir die notwendige Stabilität gegeben. Es war eine Zeit, da wollte ich sogar selbst Diakon oder Pfarrer werden. Crazy! Wenn das Icke wüsste. Vorbilder sind mir wichtig, heute noch. Wenn auch aktuell mehr in der Literatur oder medial als leibhaftig. Philip Roth schildert z.B. in einem meiner Lieblingsbücher (Nemesis) das Leben eines Lehrers, der sich im Krieg hingebungsvoll um seine Schüler kümmert. Es gibt dort eine Szene, da wirft ein Schüler ein belegtes Brot weg. Der Lehrer hebt es vom Boden auf und isst es vor der gesamten Klasse ganz genüsslich. Sowas speichere ich ab, bewerte es als vorbildliches Verhalten und adaptiere es für mich - und scheitere natürlich viel zu oft an der täglichen Umsetzung. Deshalb ärgere ich mich selbst am meisten darüber, dass ich jemals geraucht habe. Nicht wegen meiner eigenen Gesundheit, sondern weil ich kein gutes Vorbild für Anna war. Samuel Koch ein weiteres Vorbild. Der mit dem Unfall aus „Wetten dass...“. Ich habe „Zwei Leben“ von ihm und einiges über ihn gelesen. Mittlerweile ist er Schauspieler am Staatstheater in Mannheim, Regisseur und Autor und glücklich verheiratet. Ein zutiefst dankbarer Mensch, wie er selbst sagt. Ein Mensch, der vom Hals abwärts gelähmt ist und das Leben in vollen Zügen genießt. Nicht nur das beste aus dem Schicksal, das ihn verraten hat, macht, sondern noch viel Besseres von sich zum Vorschein bringt. Alles passiert im Kopf. Die Dinge, die außerhalb passieren, können zur reinen Nebensache deklariert werden. Ich kann körperlich nicht raus, bin aber in meinem Kopf frei. Kann dadurch meine Würde bewahren. Und noch viel mehr: zu einer Inspiration für so viele Menschen werden. Nelson Mandela. Auch so einer, der in in einer „Zelle“ eingesperrt war und im Kopf über sich hinaus gewachsen ist. Über ihn habe ich viel gelesen, alles aufgesogen. 28 Jahre im Gefängnis, nicht zerbrochen und eine Nation vereint. Der König der Vergebung. Mahatma Gandhi: Eine Nation mit einem Hungerstreik gewaltfrei befreit. Woher kommt diese mentale Stärke, dieser unbändige Wille?  Auch wenn diese Menschen für uns so weit weg erscheinen, gar „übermenschlich“ agieren, könnten wir uns nicht doch ein klein wenig ein Beispiel an ihnen nehmen? Es muss ja nicht sein, das ganze Wesen auf uns zu übertragen, aber dennoch vielleicht eine Facette, ein Gedanke. Kleine Brötchen schmecken auch gut, habe ich gehört.

Nici liebe ich, weil sie auch ein Vorbild für mich ist. Ein Vorbild in Sachen Anstand und Selbstdisziplin. Sie ist ein guter Mensch und ich mag es sehr, mit ihr unter einem Dach zu leben. Zu zweit das Bett zu teilen, ist auf Dauer ohne Achtung voreinander nicht möglich. 

Anna hat etwas Bemerkenswertes gesagt, als sie da war: Komplimente über mein Aussehen interessieren mich nicht, langweilen mich, wenn man aber anerkennt, was ich tue, das hat für mich ein viel größeren Stellenwert. Es ist schönes Gefühl, wenn die Tochter sich zum Vorbild des Vaters gemausert hat. 

 

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