Die Zeit nimmt nicht mich!

Ist dieses gestrige Bild von Marilyn und Irvin Yalom nicht wunderbar? Ich habe noch nie ein schöneres Foto von einem älteren Liebespaar gesehen. Ist das nicht unser aller Sehnsucht? Für die Realisten und Anti-Romantiker natürlich nicht. Ich bin froh, dass ich nicht aufgegeben habe, an die große Liebe weiterhin zu glauben. 

 

Es scheint so, dass ich sehr krank bin. Immerhin spricht die Diagnose und meine Krankmeldung bis erstmal 31.07. dafür. Ich sollte also ziemlich betrübt sein. Ich bin es aber nicht. Mein Leben besteht aus purer Freude. Mir geht es sehr gut. Ich bin umgeben von Menschen, die mich aufrichtig lieben und mögen. Und sehen! Mich! Das ist das großartigste Geschenk, dass man mir machen kann. Ich bekomme fast jeden Tag liebe Nachrichten, Emails, Telefonanrufe (mal von meinem AfD-Neffen abgesehen). Es ist alles dabei: Mutmachworte, Bestärkungsworte, Angebotsworte, Nachfragworte, Dankesworte. Wäre ich im stillen Kämmerlein geblieben, wären wir allein mit unseren Sorgen und Entscheidungen gewesen, und diese so kostbaren  kleinen Momente des Glücks hätte es vielleicht nie gegeben. Es werden sogar Tipps für Nicoles Rückenprobleme übermittelt, weil man im Blog davon gelesen hat. Ihr geht es wieder besser. Sie hat nicht mehr diese großen Schmerzen. 

Ich bin mir fast sicher, dass ich in meinen 52 Jahren jetzt mehr schöne Momente als schlechte gehabt habe. Die Waage kann eigentlich nicht mehr ins Minus kippen. Es ist schön, aufgefangen zu werden. Trotz allem bleibt eine Restskepsis, dass ich am Ende ganz allein mit mir klar kommen muss, wenn es um meine weitere Existenz geht. Niemand und kein Buch dieser Welt wird mir da helfen können. Marilyn Yalom war umzingelt von Liebe und doch entschied und starb sie allein. Die Aufgabe ist es, mit sich im Reinen zu sein. Sagen zu können: Du hast dich redlich bemüht. Du warst in den meisten Fällen ein anständiger Homo Sapiens! Manchmal bewundere ich die Menschen, die nicht so viel über sich nachdenken, einfach vor sich hin leben, die sich um Akten, Schrauben, Statistiken und Gesetze mehr kümmern als um sich und andere. Ich werde definitiv Probleme damit haben, im Berufsalltag wieder Fuß zu fassen. Denkt mal selbst drüber nach, wie viele unnötige verhasste Dinge macht man an einem Arbeitstag. Überwiegt hier die negative Seite ist es eigentlich ganz aus. Wenn ich an meine zwei Hospiz-Begleitungen zurück denke, war jede Minute ein Geschenk. Eine Tätigkeit, die mich voll und ganz erfüllte. Mit dem Schreiben ist es ähnlich. Jede Zeile, die ich hier verfasse, erfüllt mich. Ich muss natürlich wieder meinen Beruf ausüben, muss ja das viele Geld rechtfertigen, dass ich vom Staat erhalte. In meiner Vorstellung ist die Schule schon ganz weit weg, obwohl es mir so gut geht. Vor 10 Uhr Jahren war das nicht so. Die Radikalität in meinem Denken macht mir manchmal Angst - und Nicole natürlich auch. Ich muss mich zwingen, mir alle möglichen Optionen offen zu halten. Ich habe schon den einen oder anderen gewaltig irritiert, das weiß ich; ich darf mir selbst die  Türe nicht ganz zuschlagen. Kann man es aber nicht verstehen, dass ich durch die zweite Diagnose plötzlich in ganz andere Kategorien denke. Ich bin kein Typ, der einfach alles so beim Alten belässt, dann wäre ich nie Lehrer geworden und wäre für immer und ewig bei meiner Versicherung geblieben. Es ist ja nicht so, dass ich keine Befriedigung durch meine Arbeit erlangt habe. Ich hatte viele Freiräume und konnte mich nach Herzenslust entfalten. Auch hier hatte ich das Privileg, Leuten zu helfen, ihnen etwas mitzugeben. Aber vieles ging mir auch ziemlich auf die Nerven. Und am Ende hat mich die Überforderung mit meiner Krankheit adäquat umzugehen, regelrecht angewidert. Man arbeitet eng zusammen und kennt sich nicht. Oberflächlichlicher Scheißdreck! Ist das nicht furchtbar. Für mich ist das JETZT furchtbar. Es erinnert mich ganz stark ans Ende meiner Versicherungsphase. In der Schule fällt es mir immer schwerer, jeden Tag nett und emphatisch zu sein. Vor allem was die Arbeit mit Erwachsenen anbelangt. Wenn ich Kranke oder Familienangehörige helfen kann, bereitet es mir überhaupt keine Mühe zugewandt zu agieren. Das ist schon sehr seltsam. 

 

Ich freue mich jeden Tag auf „meinen Tag“. Ich darf ihn gestalten wie es mir beliebt. Außer natürlich, wenn Arzttermine anstehen. Ich nehme mir die Zeit, die Zeit nimmt nicht mich! Ich hab auch überhaupt keine Skrupel mehr, ausgemachte Termine abzusagen. Solange ich keinen damit verletze oder schade. Dieses Gefühl der absoluten Unabhängigkeit ist fast schon transzendent. Diese steht und fällt aber mit dem Einkommen und mit der körperlichen Unversehrtheit. Ich habe gut reden: Kohle kommt wie gehabt jeden Monat rüber und ich kann im Augenblick (fast) alles in die Tat umsetzen, was ich vorhabe. Wenn Nici sagt „Ich bin so froh, dass es dir so gut geht“, dann ist das keine Floskel, sondern drückt die Furcht vor dem Grauen aus. Meine Narben am Port und  am Hals sind fast nicht mehr zu sehen. Mist, kann ich überhaupt nicht mehr angeben damit! Beide OPs sind aus dem Gedächtnis gelöscht. Meln Boppel in der Leiste ist definitiv weg. Unfassbar! Einfach weg! Mein IS-Gelenk zwickt kaum noch, außer ich stelle die aufgezeichneten Übungen der Yoga-Lehrerin nach. Es könnte sein, dass diese Übungen mich eher umbringen  werden als das Lymphom. Icke ist immer noch im Urlaub, er hat verlängert. Meine Libido ist kein Fünkchen beeinträchtigt. Es ist einfach so, vor 10 Jahren war der mögliche Tod nicht so schlimm, haarlos zu sein und ohne Viagra nicht mehr vögeln zu können - DAS war schlimm! Zurzeit bin ich in jeder Beziehung im dunkelgrünen Bereich.  Ich glaube, da draußen laufen „Gesunde“ umher, die sind mehr im Arsch als ich! 


Happy Birthday, liebe Ines! Ich bin dankbar, dass du wieder in meinem Anti-Lymphom-Team bist. Die Dreisis werden mich nicht so schnell los. Für mich ganz persönlich bist du genau richtig, so wie du bist. Ich hoffe nur für dich - wie auch für mich - bald wieder etwas gesünder. Wir lassen uns nicht so schnell ins Bockshorn jagen. Was wir tun können, werden wir tun. High Five! 

 






 

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Kommentare: 1
  • #1

    Ines (Freitag, 11 Juni 2021 19:46)

    Danke dir, lieber Alex, für jedes einzelne Wort �