Erinnern und teilen

Marilyn Yalom ist tot. Sie hat es endlich geschafft! Wer Marilyn Yalom ist? Sie ist die Protagonistin aus dem Roman „Die Unzertrennlichen“, den ich gerade lese. Sie war 72 Jahre mit ihrem Mann Irvin, ein bedeutender Psychoanalytiker zusammen, 65 Jahre davon verheiratet. Kaum eine Nacht waren sie getrennt. Nun ist sie mit Hilfe der Palliativmedizin erlöst worden. Die letzten 36 Stunden ihres Lebens waren für die Kinder, Enkel und ihren Ehemann sehr grausam, weil sie Stück für Stück durch die Sedierung den Menschen verloren haben, den sie am meisten liebten. Sie konnte sich zwar kaum noch äußern, aber lächeln. Und beruhigen. Marilyn und Irv, 86 und 88, zwei Intellektuelle haben noch gemeinsamen an einem Buch geschrieben. Marilyn Herzensprojekt nach der Diagnose. Dort wollten sie all die Dinge aufschreiben, die das gemeinsame Leben betrafen. Jeder abwechselnd ein Kapitel. In der Nacht nun war Marilyn, diese wunderbare Frau, nicht mehr da und ich musste mit Irv alleine Vorlieb nehmen. Dieses Buch nimmt mich emotional so in Beschlag, dass ich es immer für ein paar Tage weglegen muss. Auch heute Nacht machte es mich wieder fix und fertig. Als Irv davon berichtet, dass er nicht fähig ist zu organisieren und er kaum mehr weiß, wie die Beerdigung abgelaufen ist, als er von der großen Weihnachtsfeier mit der ganzen 20-köpfigen Familie erzählt, das erste Weihnachten ohne Marilyn, und er an diesem Tag in der Küche zum ersten Mal im Leben vor seinen Kindern in Tränen ausbricht, weine ich still mit ihm im Dunkeln mit. Alles erinnert ihn an sie: Die vielen Lesebrillen, die im Haus herumliegen, zum Beispiel. Nichts von ihr kann er entsorgen. Sein Sohn hat ein gerahmtes Foto, das die Washington Post für ihren Nachruf verwendet hat, mitgebracht. Irv hatte sich geäußert, dass er dieses Bild von seiner Marilyn sehr mag. Nach einer Weile, als er wieder alleine im Haus ist, dreht er das Bild gegen die Wand, weil der Anblick ihn um den Verstand bringt. Irv reflektiert, dass er das erste Mal in seinem Leben die Obsessionen seiner Patienten nachempfinden kann. Ein Psychoanalytiker von Weltrang seziert sein Innerstes. Die Familie kümmert sich rührend um ihn. Tochter und Schwiegertochter kommen und legen sich zu ihm, dass er ein wenig Schlaf findet. Seine Söhne spielen das erste Mal Schach zusammen, dies hatten sie über die Jahre aus Rivalität abgelehnt. Durch den Tod von Marilyn ist die Familie noch näher zusammengerückt. An der Beerdigung haben alle Kinder Trauerreden gehalten. Bemerkenswerte wunderbare persönliche Reden. Eigentlich würde ich sie gern alle hier vorstellen. Ich habe einen Beitrag ausgewählt, weil mir die besondere Umsetzung so gut gefällt. Eine Tochter hat mit den Enkeln zusammen Erinnerungsfragmente verfasst und die Trauergemeinde sprechen sie im Chor.

Mir ist sofort dazu eingefallen: Wie wird man sich an mich erinnern? Wird man sich womöglich an eine besondere Facette von mir erinnern, die mir gar nicht behagt? Sind da Eigenschaften, Merkmale, von denen ich gar nichts weiß? Etwa gar nichts wissen will. Die Worte „extrem“ und „humorvoll“ würden bestimmt vorkommen. Humorvoll kann ich so stehen lassen. Extrem kann ich verstehen. Möchte ich das tatsächlich sein? Extrem? Jeder Mensch, der was Gutes bewegen will, wäre dann doch „extrem“. Jeder Mensch, der versucht, so konsequent wie möglich sein Leben zu gestalten, wäre extrem. Langweiler sind nicht extrem. Ich bin alles, nur kein Langweiler. Das war ich noch nie. Ich bin stets auf der Suche nach besonderen Momenten - mit Menschen, mit Tieren oder mit Dingen. Ich sammle besondere Momente wie Briefmarken. Auch nachts in Büchern. Diese Obsession überfordert wahrscheinlich eher viele Menschen, als dass sie sich davon mitreißen lassen. Fühlen ist nicht die Normalität, ignorieren und schweigen schon eher. Warum sehen und empfinden die Menschen das nicht, was ich sehe und empfinde. Ich kann das nicht einfach abhaken, stehen lassen. Vielleicht resultiert diese Sehnsucht aus dem Umstand, dass ich als Kind und Jugendlicher von der Familie nicht gesehen wurde. Ich weiß es nicht!

 

Manchmal glaube ich, dass ich zu viel für meine Mitmenschen bin. Es ist manchmal sehr schwer, mir und Icke zu folgen. Das ist mir bewusst, und ärgert mich zugleich wieder. 

"Teilen" war noch ein wichtiges Stichwort heute Nacht in den Kapiteln, die ich gelesen habe. Irv schreibt:

 

„Aber es geht hier nicht um Einsamkeit. Es geht hier darum, dass ich lernen muss, dass etwas Wert haben und von Interesse sein kann, selbst wenn ich der Einzige bin, der es erlebt, selbst wenn ich es nicht mehr mit Marilyn teilen kann.“

 

 

Ich denke, dieses teilen wollen, ist es, was Liebe ausmacht. Man möchte schöne besondere Dinge, die man erlebt, mit den Menschen teilen, die einem am nächsten stehen. Wenn das wegfällt, ist dies nur schwer zu ertragen. Nicis und mein Tag besteht oft aus Teilen: morgens, wenn Sie mir ein Bild vom Sonnenaufgang in Böchingen zusendet, oder wenn ich ihr beim Nachmittagskaffee berichte, welche tolle Nachrichten ich erhalten habe. Ich glaube, wenn dieses teilen wollen nicht da ist, verschwindet auch die Liebe. 

 

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