Offenheit zieht Offenheit nach sich

Elbjazz Hamburg im Livestream gestern. Geiles Konzert von Michelle David. Noch nicht gekannt.  Das war vielleicht mitreisend. Ein lebendes Atomkraftwerk. Das wäre vor Ort der absolute Hit gewesen. Diese Powermusik ohne Publikum - Höchststrafe für Musikfreunde. Aber man ist ja schon dankbar für jede Art von kulturellem Livevergnügen, auch wenn es nur im Stream auf der heimischen Couch stattfindet. Offen für alles! 

 

Gestern habe ich eine Email vom einer lieben Kollegin erhalten. Folgendes wurde mir da geschrieben: „Du hast uns ja schon vor einiger Zeit sehr offen über deine Krankheit und deine anstehenden Behandlungen informiert. Vielen 

Dank für diese Offenheit und dein Vertrauen mit uns so offen zu sprechen 

und uns das anzuvertrauen.“

 

Dieser Abschnitt hat mir den Impuls geliefert, mich dem wichtigen Thema Offenheit heute anzunehmen. Es wurde sich häufig schon bei mir hierfür bedankt oder man war tief beeindruckt von meiner Herangehensweise.  Bis jetzt bekam ich zum Thema Offenheit immer positive Rüchmeldungen. Zu Beginn ist mir wichtig darauf hinzuweisen, dass doch jeder mit Themen wie Krankheit, Tod, Liebe, Glauben unterschiedlich umgehen darf. Jeder darf sich entscheiden, ob er damit nach außen tritt oder nicht. Man kann selbstverständlich alles mit sich alleine ausmachen oder in einer kleinen vertrauensvollen Gruppe belassen. Ich weiß auch, dass ich in dieser Beziehung „extrem“ bin. Ich habe nicht den Anspruch, dass alle so offenherzig sein sollen wie ich. Ich stelle nur zur Disposition, wie es denn wäre, wenn man tatsächlich mit Krankheit und Tod genauso umgehen würde. Oder stelle die Frage, ob es immer so gut ist, sein Innerstes für sich zu behalten. Ich beobachte nur, wie verschlossen viele Menschen sind. Wie viel Mühe es wohl kostet, Gefühle und Fragen zu äußern oder Antworten auf das Leben zu geben. Reflektieren, philosophieren fällt vielen unheimlich schwer. Offenheit bezieht sich hier nicht nur auf die Darstellung meiner Krankheit und die daraus resultierenden Konsequenzen, sondern Offenheit bezieht sich auf das Leben im Gesamten. Wie geht man auf Menschen zu und ein, schotte ich mich ab, habe ich Angst vor Veränderung, kann ich meine Bedürfnisse äußern, um Hilfe bitten. Die Art und Weise wie ich mit Offenheit umgehe, gestaltet viele Facetten meines alltäglichen Lebens, z.B. ob ich jedes Jahr in Bayern im selben Hotel Urlaub mache, ob ich eine Liebesbeziehung eingehe oder nicht, ob ich mein Verhalten hinterfragen kann; sie ist evtl. sogar verantwortlich, welche Partei ich im September wähle. Schauen wir uns in unserer unmittelbaren Nähe um, werden wir auf viele Blender mit Pokerface treffen, die sich nicht in die Karten schauen lassen wollen, um sich nicht angreifbar zu machen. Das passable Selbstbild muss mit allen Mitteln aufrecht erhalten werden. Koste es, was es wolle. Vor sich und der Welt. Schwäche zeigen, nicht akzeptabel. Stark sein und stark bleiben, ist die Devise. Nun, das ist eben nicht mein Ansatz. Damit bin ich gnadenlos auf die Schnauze gefallen. Ich habe im Laufe meiner Erfahrungen gemerkt, dass ich nur durch Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und eben Offenheit weiterkomme, dadurch überhaupt die Chance erhalte, mich als Mensch weiterzuentwickeln, den Stillstand vermeide. Schauen wir uns um, auf was treffen wir da: Burnout, Neurosen, Psychosen, Trennungen, extremer Narzissmus, die Unfähigkeit mit Konflikten umgehen zu können, Ängste, Ängste, Ängste.  Man liest Bücher und sucht dort das Heilmittel, man fragt Psychologen nach DER Lösung. Es gibt nur eine: Akzeptanz und Offenheit! Zeige deine Wunden und du wirst geheilt. Alle anderen bekommen Ärger mit sich oder mit ihren Mitmenschen. Können nicht wirklich lieben und können auch nur schwerlich geliebt werden, sind womöglich dauerhaft frustriert. Ich kann nur sagen, seit ich diesen Weg der Offenheit gehe, habe ich zu 99 Prozent positive Erfahrungen gemacht. Mit mir selbst, aber auch mit den Menschen, denen ich begegne. Durch meine Offenheit passiert was ganz Verrücktes: mein Gegenüber reagiert plötzlich auch offenherzig: Hey Alex, es ist gut, dass du das jetzt angesprochen hast, ich fühle mich total erleichtert. Irre, oder? Sowas erlebe ich nicht selten. Offenheit bedeutet nicht, dass man hausieren geht, dass man den ganzen Tag nur seinen Scheiß erzählt und nicht zuhört. Das ist leider auch viel zu oft der Fall. Sondern es bedeutet, dass man Fragen stellt, aufrichtiges Interesse zeigt und zuhört. Impulse gibt und aufnimmt.  Wer tut das? Nur wenige. Selbst anscheinend beste Freunde und nahe Familienmitglieder kreisen bei Treffen nur um sich selbst. Hier ist es schwer ehrlich zu sein, weil die Furcht groß ist, sie ganz zu verlieren. 

Ich hätte durch den Mangel an Offenheit niemals so viele schöne Erfahrungen gesammelt. Wäre niemals in Auschwitz gewesen, hätte nicht meine lieben polnischen Freunde Jacek, Moni und Tadeuz kennen gelernt, hätte niemals das tolle Leben mit Nici führen können, hätte keine Taxidriver nach Heidelberg, würde kein mich erfüllendes Ehrenamt ausüben können, hätte nicht mit Timo diese intensiven Gespräche geführt. Timo, der mir so viel mitgegeben hat.  Sicherlich leben wir in einem Zeitalter, in dem wir so viel sofort umsetzen können. Ich glaube aber, dass eine große Dunkelziffer kaum Erfahrungen sammelt oder immer die gleichen macht. Sie den Murmeltiertag immer wieder erleben, ohne wirklich richtig zu leben. Ist nicht das Unerwartete spannend. Wer hat schon mal ganz unverhofft ein Lob oder Kompliment erhalten? Tut das nicht gut? Warum spricht man es selbst viel zu wenig aus. Wir haben einen falschen Kompass in uns. Die Nadel zeigt auf: nicht auffallen, niemand zu nahe treten, bloß keine Fehler machen. Wir haben alle fasziniert die Serie Catweazle angeschaut, würden aber entweder einen großen Bogen um ihn machen, wenn er uns im Alltag begegnen würde oder gleich die Polizei rufen. Warum schütteln wir nur den Kopf und schauen betreten weg, wenn wir an einem Bettler / einer Bettlerin vorbei gehen? Warum fragen wir nicht, warum musst du betteln, was ist mit dir passiert? Es ist das Hodgkin-Lymphom, das mich irgendwann töten wird. Sind wir alle aber nicht schon längst tot, und merken es nur nicht. 

Ein syrischer Vater wollte seine Tochter an unserer Schule anmelden. Flüchtlinge. Er sprach sehr gut deutsch. Ich fragte ihn interessiert nach seiner Vita, nach seiner Flucht. Er hat mir über eine Stunde seine Lebensgeschichte erzählt. Eine unfassbare Biographie des Leids, der Trauer, der Hoffnung, des Glücks. Am Ende des Gesprächs bedankte er sich mehrmals nachdrücklich bei mir, dass ich ihm wörtlich „meine Zeit geschenkt habe“ . Ich habe erwidert, dass er sich nicht bei mir bedanken müsse, sondern ich mich bei ihm - für sein Vertrauen und seine Geschichte. Sie hat mir wieder mal verdeutlicht, was es bedeutet Humanität nicht nur als Fremdwort oder Floskel anzusehen. Wie kann man nur schreien: Lasst sie doch alle absaufen oder hängt Merkel! Was sind das für dumme unmenschliche Kreaturen. Offenheit zieht Offenheit nach sich. Abschottung löst kein einziges unserer Probleme. Nicht im Privaten und nicht in der Gesellschaft. Das wäre mal eine sinnvolle Formel als Unterrichtsthema. 

 

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