Bei Anna hatte ich die Überlegung, einen Eintrag zu ihrem Geburtstag zu verfassen. Das wäre ja auch wirklich sinnvoll. 15 Tage warten, eindeutig zu lange. Ein Kompromiss muss her: dieser Brief. Auch hier wieder: Muss meinen Hang zum Doktor-Schiwago-Drama unter Kontrolle bringen. Was mir wohl bei Anna noch viel schwerer fallen dürfte als bei Nici. Ich gebe alles.
Liebe Anna - eigentlich wollte ich Annilein schreiben, aber da hier die halbe Welt mitliest und die ganze mitlesen könnte und du ja schon bald 28 bist, lass ich das jetzt-,
am 14.06.1993 durfte ich in der Sundgauallee zu Freiburg im Schlafzimmer deine Nabelschnur durchtrennen, obwohl ich nichts mit deinem Entstehen zu tun hatte. Mir ist es unbegreiflich wie Väter es emotional verarbeitet bekommen, diesem Wunder 2, 3, 4, 5 Mal beizuwohnen. Routine? Unmöglich. Ich war schon beim ersten Mal reif für die Psychiatrie. Als ich deine wunderschönen klaren und bereits offenen Augen aus Ulis Vagina blicken sah, war mir sofort klar, dieses Kind werde ich niemals in meinem Leben allein lassen können. Gut, du warst kein Felix, Schwamm drüber. So haben wir dich getauft, als du noch im Bauch deiner Mutter dein Unwesen getrieben hast. Und du warst nicht hässlich. Bei Gott, das warst du nicht. Es gibt sie, da kann mir keiner was Anderes sagen: die richtig hässlichen Babys. Für einen Zufallsvater war dieser Umstand, ich gebe es zu, sehr förderlich. Ich wollte kein Baby mit schwulstigen Augen und Lippen Uli in die Arme geben. Ich war da verdammt froh, dass du da nicht zu sehr nach Tom ausgesehen hast. Trotzdem bin ich für diese Befruchtungskombination dankbar, weil du für mich jetzt die schönste Tochter bist, die es auf dieser Welt gibt. Meine Nase als Frau im Gesicht zu haben, wäre jetzt auch nicht so prickelnd für dich.
In der Nacht vom 13. auf den 14.06.
erhielt meine Papaliebe den Startschuss. 24 ist jung. Im Nachhinein verdammt jung. Das Problem: deine Eltern waren noch zu sehr auf dem Weg zum Erwachsenwerden, mussten sich noch finden. Wie hast du gesagt: Erwachsenwerden ist kein automatischer Prozess, sondern eine bewusste Entscheidung. Wir waren noch viel zu sehr mit uns beschäftigt. Aber was uns vom 1. Tag verbunden hat, war die Liebe zu dir. Uli und ich bekommen immer noch gemeinsam die Krise, wenn du dich nicht länger Zuhause meldest. Na ja, ich etwas mehr, weil du in in dieser Beziehung - und auch in vielen anderen - einen ziemlich durchgeknallten Papa hast. Meine Güte, muss ich dich mit meiner Angst genervt haben. Aber ein Mensch kann da nur ganz schlecht aus seiner Haut. Und ich hab mich schon an manchen Stellen erheblich zusammen gerissen. Sonst wäre meine Adresse sicherlich heute auf jeden Fall Weinstraße 100, 76889 Klingenmünster. Schon bei 5 Minuten Überfälligkeit habe ich jeglichen Faden verloren und mit dem Gedanken gespielt, eine Vermisstenanzeige aufzugeben oder dich mit dem Fahrrad zu suchen. Was ich dann auch hin und wieder tatsächlich getan habe. Ja, Eltern machen leider nicht alles richtig. Eigentlich klar, woher sollten auch sonst die ganzen bekloppten Menschen mit ihren psychischen Deformationen herkommen. Der Grundstein hierfür wird meist in der Kindheit gelegt. Aber eins kann ich dir hoch und heilig versprechen: wir lieben dich, seit dem du in unser Leben getreten bist. Wer könnte auch nicht dieses lachende verrückte blonde Wesen lieben. Es gibt viele Situationen, da denke ich mir und sage es zu Nici: Hey, das hat sie doch von mir! Und es sind nicht nur die guten Eigenschaften: das Sammeln von Bußgeldbescheiden z.B.
Ich bin stolz, dass ich dich 2014 adoptieren durfte. Nun war ich ganz offiziell dein Paps. Ich weiß es noch wie heute: Wir saßen im Leinsweiler Hof beim Essen, da sagtest du: Also wenn du jetzt heiratest, dann könntest du mich doch auch adoptieren. Ich erstickte fast an meinem Stück leckeren Lachs, als ich diese schöne Überlegung aus deinem Mund hörte. Über Jahre war dies mein sehnlichster Wunsch gewesen. Dich nicht mehr ausnullen zu müssen in offiziellen Dokumenten, nicht mehr auf hirnrissige Kommentare wie „was kümmerst du dich denn so, ist doch gar nicht dein Kind“ reagieren zu müssen, war da schon lange als großes Bedürfnis vorhanden. Die emotionale Intelligenz ist bei vielen Menschen leider nicht gerade ausgeprägt, in der Bürokratie schon gar nicht. Ich habe diesem Wunsch nach Adoption dann nie Nachdruck verliehen. Aus Phlegma? Aus Furcht vor einer Absage? Wahrscheinlich ein wenig von beidem. Am Ende ist es natürlich für MICH umso schöner, dass DU mich gefragt hast. Das ehrt mich noch mehr. Jetzt heißt du auch noch Schnur. Ich schwöre es: Ich habe das nicht eingefädelt. Das Gericht hat damals unseren Willen ignoriert und dann nicht mehr korrigiert. Du hast dann entschieden, es dabei zu belassen und keinen Einspruch zu erheben. Bis heute trage ich da mehr schlechtes Gewissen in mir als Stolz. Dreisigacker ist genauso ein cooler Name wie Schnur. Und vom Beklopptheitsgrad schenken sich beide Familien wahrlich nichts. Die kriminelle Ader ist vielleicht bei den Dreisigackers nicht so ausgeprägt wie bei den Schnurs.
2014 mein Jahr. Du hast als MEINE TOCHTER und Trauzeugin an der Hochzeitsfeier eine emotionale Rede gehalten. Sie hat dich derart mitgenommen, dass du an dem Abend nervlich ziemlich am Ende warst. Ich habe mich schon während deiner Rede in ein Meer aus Tränen und Rotz aufgelöst. Die famose Idee von deiner guten Fenya, dich als Prinzessin zu kleiden, hat dem ganzen dann noch im wahrsten Sinne des Wortes die Krönung aufgesetzt. War aber an dem Tag sehr passend! Deine Rede, so warm so klug. Voller Gefühl hast du uns, hast du mich hochleben lassen. Auch deinen Brief zu meinem diesjährigen Geburtstag hat mich umgehauen. Da hast du den ganzen Irrsinn des Lebens in wenigen Worten auf den Punkt gebracht und gibst mir mit deinen Zeilen so viel Kraft, so viel Mut. Du wirst da sein, schreibst du, wegrennen ist für uns beide keine Option, Haltung bewahren, wann immer dies möglich ist. Wie konnte ich jemals daran nur zweifeln, dass wir ein Team sind. Mehr als das - wir sind Tochter und Vater.
Ich möchte beide Texte von dir gerne in meiner Urne/ meinem Grab dabei haben. Oh Mann, ich möchte da mit so vielen Dingen beerdigt werden. Die müssen eine Pyramide auf mich drauf bauen. Apropos Beerdigung. Tut mir Leid, aber in meiner aktuellen Situation muss ich auf meine Endlichkeit zurückkommen, das verstehst du sicherlich: Es war der schlimmste Moment für mich in den letzten 10 Wochen, dir von meiner erneuten Erkrankung zu berichten. Ich weiß doch, wie sehr du auf deinen „Fels“ zählst. Tagelang hat mein Hirn versucht, den richtigen Moment zu erwischen. Gibt es den überhaupt? Ein klein wenig war es der richtige. Uli kam zufällig von einer Wanderung mit Eri zurück und konnte dir die Hand zur Beruhigung halten. Zu diesem Zeitpunkt war noch alles unklar. Das wissen noch völlig unzureichend. Ich spürte nur ganz deutlich, dass ich eine Therapie wie vor 10 Jahren nicht noch einmal durchstehen könnte. Diese Aussage hat dich wohl am meisten geschockt. Aber ich fordere Ehrlichkeit, dann muss ich sie auch selbst leben, so gut wie es eben geht. Dir Schmerz und Trauer zufügen zu müssen, ist das Allerschlimmste. Ich würde alles dafür geben, dir das nicht antun zu müssen. Ich würde sogar mein unfassbar gutes Aussehen dafür hergeben. Nun ist klar, die Therapie verläuft milder als ursprünglich gedacht. Meine tollen Locken bleiben mir erhalten. Es wird mich trotzdem einige Kraft kosten, um es vielleicht doch wieder für ein paar Jahre zu packen. Jetzt mal an Peter Schilddrüse, die faule Sau, gar nicht gedacht! Ich weiß, dass ich doch wieder vieles auf mich nehmen werde, um noch eine Weile dein Paps sein zu dürfen. Ich will es doch erleben, wie UNSERE damals kleine, sprachlose und eigenprödlerische Anna, das 1. und 2. Staatsexamen schafft und ganz aufgeregt die erste offizielle Unterrichtsstunde an ihrer Berufsschule hält. Vielleicht eine Pfälzer Tapas Bar oder einen Hunde-Gnadenhof eröffnet. Ich will meine Anna zum Traualtar führen, will mit meinem Enkel Felix hoppe hoppe Reiter und Engelchen flieg machen, möchte mit dir noch ne Menge Froschschenkel und Pulpo in geilen Restaurants schlemmen.
Heute am 31.05.2021 um 07.42 Uhr bin ich glücklich, wie ich es mir in meinem Leben niemals hätte vorstellen können. Aber all das oben Aufgezählte würde mich definitiv noch glücklicher machen. Du bist wie ich keine Aufgeberin. Du hast Biss, bist fleißig, kannst dich quälen und bist manchmal ein wenig zu stolz. An einigen Stationen hättest du zurecht schon alles hinwerfen können. Du hast immer alles durchgezogen. Wie ich! Du hast immer eine Idee parat wie dein Papa. Deine Biographie ist beeindruckend und wird es auch bleiben. Ich bin mir sicher, du wirst für viele Jugendliche eine Inspiration darstellen, einen ähnlichen erfolgreichen Weg einzuschlagen. Das irgendwann erleben zu dürfen, ist im beruflichen Leben ein Privileg ohne gleichen. Scheitern ist aber auch wichtig. Nur durch Scheitern, Unglück und Qual, behält man die Demut bei. Ohne Demut hat man keine Chance, ein anständiger Mensch zu werden. Du bist gescheitert und immer wieder aufgestanden. Das wirst du weiterhin tun, auch ohne mich! Das weiß ich heute. Das beruhigt mich ungemein in meinem Da- und Dortsein. Ich weiß, dass du jetzt ohne mich klar kommen wirst. Diese Erkenntnis ist bedeutend, wenn es für mich irgendwann darum gehen wird, loslassen zu können. Ich möchte mich nicht so lange rumquälen müssen, wie es Timo getan hat. Aber ich werde dir auch versprechen zu kämpfen; ich werde über meine Grenzen gehen, wenn es darauf ankommt: Ein Mohammad Schnur gibt sich nicht so leicht geschlagen. George Lympgomi kann sich für die nächsten Runden warm anziehen. Ich habe den unschlagbaren Vorteil, das beste Anti-Lymphom-Team an meiner Seite zu haben, das die Boxwelt jemals zu Gesicht bekommen hat.
Wenn das Schicksal etwas anderes für uns vorgesehen hat, dann werde ich auf dich aufpassen und stets ein gutes Wort für dich einlegen. Du weißt, ich bin da sehr pfiffig und kreativ diesbezüglich und scheue keine Peinlichkeit. Oh ja, das weißt du zu gut! Ich habe das Wort Peinlichkeit quasi erfunden. In dem Film Almanya - Willkommen in Deutschland (du kannst dich erinnern, den haben wir 2012 zusammen im Kino gesehen) sagt der herzkranke Großvater zu seiner Enkelin, die ihn sehr liebt:
Du wirst es schaffen, egal was mir passiert. Ja, du wirst es schaffen, liebe Anna! Egal, was da noch auf uns zukommen mag!
Dein Paps
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