Die Kraft der Imagination

Was Vorstellungsgabe anbelangt bin ich denke ich gar nicht so schlecht unterwegs. Schon immer habe ich mich allein mit der Kraft meiner Gedanken in fremde Welten begeben. Entweder in meinem Kinderzimmer, wenn sich Eltern oder andere Familienmitglieder stritten oder in der Schule, wenn ich ganz verliebt neben Susi M. saß. Tagträume waren schon immer mein Revier. Selbst Reisen durch den eigenen Körper waren da nicht ungewöhnlich. Von Filmen, in denen so Mini-U-Boote in Blutbahnen oder zum Mittelpunkt der Erde reisten, war ich schon als kleiner Steppke fasziniert. Es klingt schräg, aber ich kann mir dann tatsächlich vorstellen, dass entweder ein PUK (der mittlerweile zu einer Murmel geworden ist) in meinem Hals steckt oder ein Tennisball in meinem Unterleib umherwandert und wilde Ploppgeräusche von sich gibt. Lehrer*innen sagten immer: Ihr Sohn hat eine sehr ausgeprägte Fantasie. Eigentlich wollten sie ja sagen: Der Kerl ist total bekloppt. Haben sie schon mal an therapeutische Unterstützung gedacht, Frau Schnur?) 

 

Auf Arbeitsblätter für die Schüler*innen liebe ich es, skurrile Situationen zu kreieren und freue mich wie ein kleines Kind, wenn der eine oder andere zwar nix kapiert, aber wenigsten laut auflacht. Humor bei Kindern und Jugendlichen ist ein äußerst schwieriges Thema. Gerade bei den pubertierenden Monstern meint man, dass die Hormone den Humor komplett zu killen scheinen. Der adäquate Unterrichtsraum in dieser viel zu langen Phase wäre eigentlich ein Friedhof (der Kuscheltiere?). 

Aber zurück zu meinem Talent: Schon immer konnte ich mir die unwahrscheinlichsten Dinge lebhaft vorstellen und einreden. Ich lasse dann z. B. die Medikamente aus kleinen Piranhas bestehen, die die entarteten Zellen mit ihren scharfen Schneidezähnen wegknabbern. Wenn während der Infusion etwas zwickt und sticht, stellt man sich eben vor, die kleinen Helfer sind gerade am Werk. Und schon quält einen die Prozedur etwas weniger. 

Verrückte aberwitzige Maschinen habe ich als Kind gezeichnet und mir gewünscht, dass sie mich zum Superhelden machen.  Um Kevin, das Hohlhirn aus der 8b, endlich seine fiese Schnauze stopfen zu können. Oder ich hatte einmal eine Nicht-Streit-Maschine erfunden. Wenn man da auf einen roten Knopf drückt, wird man mit den Düften der Welt benebelt und streitet sich nicht mehr. Lehrer*innen, die solche „wahnsinnigen“ sinnlosen Bleistiftzeichnungen nicht selbst gemacht haben, können nur schwer verstehen, welcher positiver Sinn sich dahinter verbergen soll. Für die Kids, egal in welchem Alter, ergeben diese Ausdrucksformen eben einen elementaren Sinn in ihrer aktuellen Lebenssituation. In diesen durchgeknallten Zeichnungen manifestieren sich tiefe Verletzungen, Enttäuschungen und Sehnsüchte. Es sind Emotionen, die verbal nicht geäußert werden können. Verarbeitung des Erlebten in Reinkultur. 

Meine vorerst letzte Seminarstunde mit dem ambulanten Kinderhospizdienst vor wenigen Wochen hat mich tief beeindruckt, fast schon regelrecht aufgewühlt. Es wurden Bilder vorgestellt, von Kindern mit einer unheilbaren zum Tode führenden Krankheit. Sie durften ihrem Seelenleben Ausdruck verleihen. Man blickte auf die Bilder und verlor unmittelbar die Sprache. Das Leben kann manchmal so schrecklich schockierend sein und so voller Lebensbejahung, dass man daran verrückt werden könnte. Lebensbejahung und Trost von Kindern, die bald sterben werden. 

Zwischen Abitur und Uni-Einschreibung hatte ich kurz die Überlegung Kinderpsychologe zu werden. Ich hätte mich auf die Analyse und Deutung von Bildern und -Texten von Kindern mit einem Trauma spezialisiert. Ich habe mir angewöhnt, bei jedem von mir organisierten Fest oder Restaurantbesuch, bei dem Kleinkinder mit von der Partie sind, Farbstifte und Papier zu Verfügung zu stellen. Es gibt kaum ein Kind, das nicht gerne malt. 

 

Die Kraft der Imagination hat wohl jetzt dazu geführt, dass mein Bollen in der Leiste seit gestern schon fast nicht mehr fühlbar ist. Und das nicht nur für mich, sondern auch für Nici. Ungläubig starrten wir uns gestern und heute gegenseitig an. Ist es möglich, dass die Medikamantengabe seit dem 26.05. bereits eine derartige Reduktion bewirken kann? Oder war es meine Gabe? Das Ding war ja riesig, und jetzt (fast) weg? Heute fühle ich mich gut. Mir ist nur so verdammt kalt. Dann denke ich mir mal einfach schnell 30 Grad nach Böchingen. 

 

2,5 km heute Mittag gelaufen. Mehr geht noch nicht. Hat gut getan. Das innere Frieren ist auch besser geworden. Ich bin stabil, aber für Nici und mich ist es schon seltsam jetzt so auf Sparflame laufen zu müssen. Wir sind gespannt, wie die nächsten 3 Wochen verlaufen werden. 

Das kleine Schörlchen mit den Kumpels hat keine spürbaren Beeinträchtigungen nach sich gezogen. An die homöopathische Mischung muss ich mich gewöhnen. Im Prinzip nur fürs Gschmäckle und symbolisch. Nett, dass mich niemand in der Runde auf mein Ungemach ansprach. Außer die Hospiz-Professionelle brachte niemand den Mut auf. Völlig in Ordnung alles. In den Augen und in den Handlungen sah ich Mitgefühl, das reicht.  Die nächsten Taxidriver stehen fest. Termine sind abgeklärt. Muss nur höllisch aufpassen, dass Manne, der sich extra einen Urlaubstag nimmt, um mich  zu fahren, mich in der richtigen Klinik rauswirft und nicht aus Versehen in der Geburtsklinik Halt macht. So gefällt mir das einfach: spontane Meldung in der WhatsApp-Gruppe der Schorletrinker von Rolo mit dem Stichwort „Grillen“ und die ganze Mannschaft tanzt an. 

Nicis Schlafproblem? Geheilt durch die App Calm. Kaum sind zwei Minuten daher gesäuselt, pfeift sie schon die Schafe im Nirwana zusammen. Stupse sie zur Testung in die Seite. Tot! Mausetot! Auch ein LKW-Laster, gefüllt mit Kleiderstoffe aus aller Welt, der gegen unsere Hauswand donnert, würde sie in diesem Stadium nicht mehr interessieren. Wieder einen Sieg davon getragen. Das Schönste: ohne Medis! 

 

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