Tag 1
02.15 Uhr
Traum.
An meinem Sterbetag treffen sich immer meine Kumpels in der Klinik. Ich bin auch dabei. Wir kämpfen mit Infusionsständer, ärgern andere Patienten, lachen und grölen durch die Gänge. Kreischende Krankenschwestern verfolgen uns und wollen für Ruhe sorgen. Einer von uns sagt: Sie müssen das verstehen, wir machen das immer so. Wir sind traurig, weil einer von uns gestorben ist. Ich trete aus der Mitte und lache laut. Entschuldigen sie bitte, die Jungs können nichts dafür. Heute ist der Jahrestag meines Todes. Die Krankenschwester schaut mich geschockt an und stottert: in Ordnung, aber tragen sie bitte ihre Masken!
05.00 Uhr
Heute werde ich krank. Keine Nebenwirkungen? Das wäre natürlich der Clou. Doppel-Impfung mit Biontech habe ich auch ohne Probleme weggesteckt. Tatsächlich keine Nebenwirkungen - nicht eine! Mal sehen…Die Antikörper sind schon eine andere Hausnummer.
Kann mich noch erinnern. Das Zeug hat mich weggeballert wie 5 Pälzer Schorle. War wie ein heftiger Day-After-Kater. Ging eigentlich ansonsten.
Bis jetzt war alles Kindergarten. Heute steige ich in den Ring, als heiliger Mohammad Schnur. Rumble in the Jungle in Heidelberg, Neuenheimer Feld 410. Braun gebrannt und in Topform. Ging mir nie besser. Die Zuschauerränge sind bis auf den letzten Platz besetzt. Die Kampfbörse astronomisch. Ich muss mich auf meine Stärken besinnen: die Beinarbeit, mein rechter Haken und meine Nehmerqualitäten. Humor ist natürlich auch nicht zu verachten. Ich haue dem kleinen Scheißer Goerg Lymphomi sowas auf die 12, trete dem alten Angeber derart in seinen fetten Allerwertesten, dass er weinend aus dem Ring direkt zu seiner Mami rennt. Es kann nur einen geben...Mich! The one and only! Tänzel...tänzel ...box...box...keuch...keuch...schwitz...schwitz..
Die Kollesche-Playlist für den Tag 1
Alle Kollegien*innen, die mir in den letzten Wochen aufbauende Worte zukommen ließen und mir einen Song genannt haben, sind auf der Liste vertreten.
Interessante Mischung!
Fast alles Realschullehrer*innen-Songs. Gymnasiallehrer*innen scheinen mich nicht so zu mögen. Verstehe ich ja auch, ist schon ein seltsames Völkchen,
Der Regenbogen ist bereit!
Ankunft. Alle noch im Schlafmodus hier in der Hämatologie; ich auch.
Hoffe, Nici findet ein schönes Café!
07.53 Uhr
Och, vielleicht nehme ich die Tage auch mein Strickzeug mit. Gute Idee!
07.58 Uhr
Irgendwie is mir schon übel, bevor es überhaupt los geht.
08.07 Uhr
Abstrichscheiße! Muss ich das jetzt jedes Mal machen?
08.15 Uhr
Abstrich einmal die Woche. Gedankt sei den Heiligen!
Also auch mir! Warteraum der Todgeweihten! Bzw. der eine oder andere ist schon tot, glaube ich. Ich sehe am besten von allen aus. Die denken bestimmt, was macht den der schnucklige Typdennhier.
08.20 Uhr
Wenn ich fertig gemacht werde, dann wenigstens gut vorbereitet. Kann mich bespaßen und verpflegen nach Herzens Lust. Wie meine Leidensgenossen schauen würden, wenn ich Saumagen und Rieslingschorleauspacken würde. Die Oma würde sich bestimmt ihr Strickzeug voll kotzen. Das Kliniknetz läuft einwandfrei. Gott war das vor 10 Jahren alles noch ein Hick Hack! Jetzt kann ich hier alles verzapfen,was mir durch die Birne schießt und Sekunden genau hochladen. Krass!
08.31 Uhr
Und ich weiß, dass 2, 3 von meinen Leuten quasi neben mir hier sitzen. Schon irre!
Begleitmedikation
Alles andere bei Bedarf!
Arztgespräch durch einen sehr jungen haarlosen Prof. Dr. Wusste nichts von dem Bendamustin-Problem. Ist eine Standartgabe bei Hodgkin.
Portnadel sitzt. Eine sehr nette kompetente Krankenschwester hat sie mir gelegt. Top!
Port scheint gut zu funktionieren. Nun warten auf die Antikörperchen.
Eine zweite sehr freundliche und zuvorkommende Pflegekraft klärt mich auf dockt jetzt den Histamin- Vorlauf an. Heute werde ca. 4 Stunden zu tun haben, morgen wird es deutlich kürzer sein. Vorausgesetzt ich vertrage alles. Eine Paracetamol wird mir dargereicht. Die Pillenschluckerei fängt wieder an.
Blutdruck 160/90. Aufregung! Wenn man mir auch so schöne Mutmach-Bilder schickt.
Es ist 09.37 Uhr.
Schwindel! Unangenehm! Versuche mit Vivaldi zu schlafen. Kein Kolleche-Mix!
10.23 Uhr
Der Schwindel setzt mir ganz schön zu.
Ich wollte so viel schreiben, kann keinen klaren Gedanken fassen. Große Unruhe in mir!
10.57 Uhr
Rituximab gestoppt. Pause. Wird verdünnt. Bissel besser! Klogang ohne umkippen durchgezogen. Jetzt muss ich wieder so ein Ständer hinter her ziehen und aufpassen, dass ich mich im Kabelnichtverhedderund mir aus Versehen meine rechte Titte raus reise.
Geht aufwärts, hab Hunger!
Oder liegt’s an der lieben Nachricht von Anna.
11.16 Uhr
Rituximab läuft wieder. Schnell nochmal Pinkelpause Nr. 2. Keine Probleme. Enthedderprofi!
Kann mich vielleicht der Visualisierungen kurz widmen.
Also: Ihr kleinen wunderbar gefräßigen Anti-Körperchen. Haut euch mal kräftig den Wams voll mit den Tumorzellen. Ihr dürft auch rülpsen wasdasZeughält.NurkeineHemmungen.Hautrein!Habgenug!
11.52 Uhr
Geht viel besser jetzt. Hab noch parallel NaCl laufen. BinhalteinSchorlemann.Merkzwarnoch,dasswasgeht,abermirisnichtmehrsoschwummerig.Klinik-BrötchenundJoghurtbleibendrin!GleichkriegnochnenKaffgebracht. Is ja fast schon Wellness.FehltnochPediküre.Suhldazuwäreoptimal.Arztschautjetztalle5Minutennachmir.Ich vermute,der ist12undhatschonseinMedizinstudiummit9abgeschlossen.
Kaffee ist kacke! Ich schätze mal, das ist derdefinitivschlechtesteKaffeedesJahres.WahrscheinlichausdemJahr1945. DieKannehatmanirgendwovergessenundistjetztwiederaufgetaucht.AberüberGeschenkemault man nicht.
12.08 Uhr
Wenn ich noch von 2011 weiß, dann dass ich während der Infusionen am Dauerpinkeln war. So ist es jetzt auchwieder.Das3.Mal.Malsehen,aufwelcheAnzahlichheutekomme.WärejaaucheineschöneWettefürdieEnglischen Wettbüros.
12.39 Uhr
Ich muss nicht mehr aufs Klo, weil ich dauerflenn, anstatt dauerpinkle. Ich weiß nicht woran das liegt. An der Musik (Amie von Damian Rice)oderandiewunderschönenMutmachfotosundvielenNachrichten.Ichschaue aus dem Fenster und denke an das wunderbare Leben mit der Liebe meines Lebens - und an Anna. Sie schreibt nicht mehrAlex,sondernjetztimmerPaps.Selbst das macht mich schonwiederganz fertig. Ich vermisse sie so sehr und kann es kaum erwarten, sie in den Arm zu nehmen. Ich glaube, ich lass sie niewiederlos.
Bridge over Trouble Water - immer noch ein schöner Song. Der Text tröstet mich tatsächlich ein wenig.
14.00 Uhr
Ich bin hier tatsächlich komplett weggebleiert. Ich denke, ich habe geschnarcht! Die Beutel sind leer. Gleich werde ich abgestöpselt.
17.30 Uhr
Nach einem Zwischenstopp im Konfetti in Neustadt auf direkten Weg nach Hause. Edden war mehr Bedürfnisbefriedigung als Genuss. Heimfahrt immkoma verbracht. Daheim gleich dieCouchbeschlagnahmt.Dortwerde ich vor mich hin faulen.
Aktuelle Nebenwirkungen:
- unendlich müde
- Saft-Kraftlos
- Glieder und Hände schmerzen
- Nacken schmerzt
- Haut am Port empfindlich
- Klingeln im Ohr
- Hände zittern
- Konzentration fällt schwer
- Libido im Keller
- kein Bock auf Alkohol
Und morgen geht‘s erst richtig los.
Ich bin dann mal wech...
22.00 Uhr
Der Kater in Kombi mit Grippe verflüchtigen sich langsam. Leichte Schmerzen in den Händen nur noch. Bisschen Nebel. Gut, dass es um 15.00 Uhr los geht morgen. Dann bekomme ich nochmal Rituximab in Verbindung mit dem einzigen Chemopräparat. Vor 10 Jahren waren es fünf. Bin gespannt, wie das morgen reinhaut.
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Ise (Mittwoch, 26 Mai 2021 12:07)
Hallo Schnuri, hab mir den 26. und 27. gemerkt zum Daumendrücken, GuteWünscheSchicken und EinBisschenAnDichDenken! ��