Es ist einfach verrückt. Mit geht es gut! Sehr gut. Gestern war ich 3 Stunden einkaufen. Das steht doch nur ein Gesunder vor dem Feiertag durch.
Viele Menschen kann ich mittlerweile nicht mehr gut ab, und das als alter Festivalgänger. Einige find ich richtig ekelig. An was das bloß liegt. Früher war ich nicht so intolerant. Krankheit stößt mich nicht ab. Vielleicht sind es die Menschen, die mich an meine Schwester oder ihre früheren Männer erinnern. Eine Schicht, mit der ich nichts zu tun haben will. Manchmal bin ich selbst am meisten über solche Gedanken schockiert. Man weiß ja tatsächlich nicht, welcher arme Mensch hinter der wurmstichigen Fassade steckt. Es gibt auch Menschen in der Schule, die mir zuwider sind. Man muss halt gute Mine zum bösen Spiel machen. Ich glaube, das stört mich wohl am meisten: dieses Verstellen. Ich beneide jeden, der das nicht tun muss.
Heute geht es mir gut. Was ist mit dem 18.05.? Wieder so ein scheiß Ding in der Brust. Diesmal rechts. Routine. Aber für mich trotzdem nicht. Mit dem Port weiß ich, jetzt hat der Spaß ein Loch. Alex der Cyborg.
Und dann am 26.05. wird man zum ersten Mal angedockt: Retuximab, Antikörper. Fast genau auf den Tag wiederholt sich der Bullshit ein zweites Mal. Klar, hab ich das schon mal überstanden. Klar, hab ich jetzt eine tolle Familie an der Seite. Klar, sind die Rahmenbedingungen paradiesisch. Aber vielleicht ist es auch das, was mir eine verdammte Riesenangst einjagt. Die Angst, das alles zu verlieren. Die Angst, alle evtl. enttäuschen zu müssen. Die, die nicht wissen, wohin mit all ihrer Zuversicht und Hoffnung. Aber wie soll man auch anders reagieren. Vielleicht, dass ihr auch Angst habt, diesen geilen Typen zu verlieren, ihr Hirnis. Warum muss der Mensch sich immer ständig was vormachen. Dürrenmatt: Na um nicht Amok zu laufen. Recht hat er!
Und dann: klopp ich den Mist in 6-9 Monaten durch, darf Haare und meinen übrig gebliebenen Hoden diesmal behalten (schönen Dank!), damit dann auch schon die nächste unbekannte Mördergrube auf einen wartet: Schilddrüsen-OP. Kompliziert, keine Routine. Sagt mal, ihr Zuversichtler tackert ihr eigentlich noch ganz richtig. Wenn einem da nicht die Muffe gehen soll, weiß ich auch nicht. Step by Step, ich weiß schon. Könnt ihr das dem Icke auch mal sagen. Der schaltet da nämlich voll auf Durchzug, innere Stimmen-Tricks hin oder her. Positiv bleiben, fällt mir trotz regelmäßigem Sex und einer Fuck-Cancer-Grauburgunder-Pipeline nicht so ganz einfach, meine verehrten Hoffnungsträger*innen.
Wir schaffen das! Ja, Ja, schaffen wir das! Hatten wir schon mal.
Heute ist der Hochzeitstag meiner besten Freundin Heike. Die Bezeichnung stimmt nicht mehr so. A) ist die beste Freundin gleichzeitig meine Ehefrau. Und B) U. aus
N. und Mutter meiner Tochter mittlerweile eine bessere Freundin. Nichtsdestotrotz ist Heike eine der wichtigsten Personen in meinem Leben. Vor 13 Jahren durfte ich in der Schule frei nehmen, um
zuerst nach Barcelona zu fliegen, und dann anschließend zur Familie Fernández nach Cardona zu fahren. Dort feierten wir eine unvergessliche Lesben-Hochzeit. Heike heiratete ihre Seelenverwandte
und Weltreisenbegleiterin Rosa. Der Schnur durfte Trauzeuge sein und eine Rede halten. Was für eine Ehre! Dieser Sehnsuchtsort Cardona hat mit dieser Hochzeit und der unglaublich liebevollen
spanischen Familie zu tun. Feste können die Spanier feiern! Die ganze Familie bereitete Tage lang alles liebevoll in Handarbeit vor. AlLES selbst gemacht. Es schien, das ganze Dorf kam an diesem
Tag zusammen, um das schönste Frauenpaar des Universums zu ehren. Welche schöne Normalität, die woanders überhaupt nicht normal wäre. Dann kam ein Wolkenbruch. Es regnet eigentlich zu dieser
Jahreszeit nie. Tja,...nach weiteren Wolkenbrüchen der Nerven aller Tanten, Cousinen und Omas wurde phänomenal improvisiert und wir feierten in einem kellerartigen Anbau des Anwesens weiter.
Jeder tanzte mit jedem. Opa mit Enkelin, Enkel mit Oma. Es wurde gesungen und noch mehr getrunken. Wieder getanzt, gesungen, getrunken, immer so weiter. Die Männer rauchten Zigarre und tranken
Selbstgebrautes dazu. Nie wieder war ich an einem schöneren Fest, das eigentlich ins Wasser gefallen ist, beteiligt. Wenn sich Rosa und Heike scheiden lassen würden, würde eine ganze Region
Trauer tragen.
Oder der unfassbare 40. Geburtstag von Rosa. Organisation einer Überraschungsparty. Aus der ganzen Welt kamen Freunde auf den Punkt genau angereist: Argentinien, Neuseeland, Irland,
Köln, Stuttgart, Pfalz. Wir trafen uns in den Abendstunden auf einem entfernten Parkplatz, um gemeinsam aufgeregt zur Finca Fernandez zu marschieren. Wir reihten uns vorm Eingang im Spalier auf
und klopften. Muss ich mehr sagen? Wir flippten alle komplett aus, als Rosa fassungslos und zu Tränen gerührt im Türrahmen stand. Man ist stolz, an diesen völlig verrückten Event dabei
gewesen zu sein.
Ich wurde immer wie ein Familienmitglied behandelt. Der Freund von Heike ist auch unser Freund. Papa Fernández und Mama Fernández sind jetzt seit ein paar Tagen 56 Jahre verheiratet und kennen
sich schon über 60 Jahre. So lange gehen sie auch im Dorf jedes Wochenende tanzen. Das zum Stichwort Rituale in der Liebe! Opa Fernández hatte damals einen Deal mit dem Energieversorger gemacht.
Für die Wartung einer in abgrenzenden Stromeinheit, erhielt er auf der Finca, mit dazu gehörigen Land, lebenslanges Wohnrecht. Großvater Fernández kam zu Fuß von Andalusien nach Cardona, um
Arbeit zu finden. Fast wäre er bei Daimler gelandet. Er hat seine spannende Lebensgeschichte aufgeschrieben, obwohl er als Kind nicht lesen und schreiben lernte. Er hat mir das Buch
bei einem Besuch mit einer Widmung geschenkt. Ich hatte ihn bei einem Abschiedsessen mit einer Rede zu Tränen gerührt. Heike übersetzte. Als ich hörte, dass Miguel Fernández verstorben war, war
ich so traurig als wäre es mein eigener Großvater, den ich selbst nie hatte, gewesen.
Die Familie versorgt sich auf dem Land mit allem selbst. Überall Gemüse und Obst wohin man schaut. Der Einmachkeller ist vollgestopft mit Gläsern und Flaschen. Hinter dem Haus wurde ein Maisfeld
angebaut, damit Papa Fernández vom Schlafzimmerfenster Wildschweine schießen kann. Es muss in aller Herrgottsfrühe aufgestanden werden, damit die Nüsse noch vor den Eichhörnchen weggesammelt
werden können. Wenn die Familie zusammen kommt, wird Sardana getanzt: ein katalanischer Volkstanz. Man tanzt zusammen im Kreis und fasst sich dabei an den Händen. Widerrede zwecklos. Diese
ursprünglichen Traditionen sind schön und stärken den Zusammenhalt. Ich war einmal über die Weihnachtsfeiertage und Silvester dort. Weihnachten saßen wir in einem mittelgroßen Wohnzimmer; es
waren gefühlte 50 Personen anwesend. Alle saßen auf Holzbänken aneinander gereiht. Der älteste Gast 90, der jüngste 3 Tage. Das Baby kam mit der Ur-Enkelin zu später Stunde und das Baby wurde
über den Köpfen der Gesellschaft rumgereicht, um Duzi-Duzi machen zu können. Es wurde gekichert, gerülpst, gelacht, so laut, dass es schon fast unangenehm war. Sterile deutsche Mütter hätten die
Polizei gerufen.
Mir liegt diese Art zu leben viel näher als die deutsche tröge Mentalität. Deswegen habe ich immer gerne, wenn alle zusammen kommen, gleichgültig wie unterschiedlich und wie laut sie
sind.
Vor 10 Jahren verbrachte ich meine „Vor-Reha“ in Cardona. Ich lag völlig fertig von meinem Ulkus im Rachen unter einem Holunderblütenbaum im Schatten und wurde nach Strich und Faden betüttelt.
Die Leckereien, die mir auf großen Platten dargereicht wurden, bekam ich vor lauter Schmerzen kaum runter. Aus Höflichkeit versuchte ich ein paar frische vom Baum gepflückte Früchte, was mir
schier den Gar aus gemacht hätte. Meine Familie Fernández war so unfassbar lieb zu mir. Und hat sehr mit mir mitgelitten. Das wird sie bestimmt wieder tun!
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