Das Hörbuch „Arbeit und Struktur“ haut mich nochmal so richtig um.
Ich muss daran denken, was Rolf Dobelli in „Kunst des guten Lebens“ geschrieben hat. Man solle wenige Bücher lesen und die mehrfach. Arbeit und Struktur, das ist so eins. Ich habe es jetzt auch gedruckt bestellt. Ich MUSS es in den Händen halten, streicheln und an Wolfgang denken.
Es gibt Zeiten, da verfluche ich meinen Kindle und finde es sehr schade, dass ich irgendwann die Art zu lesen umgestellt habe. Ich bin ein Abends/Nachtsleser. In dieser Beziehung ist ein e-book unschlagbar. Ich könnte gar nicht mehr anders lesen. Nachts lesen in Papierform ist in der Regel asozial, wenn man nicht alleine im Bett liegt. Amazon ist wenigstens in dieser Hinsicht ein soziales Unternehmen.
Das haptische Erlebnis des Lesens geht dabei leider flöten. Es ist faszinierend, was Hernsdorf alles gelesen hat und auch bis zuletzt (wieder) liest. Dagegen bin ich ein Bücherwürmchen. Aber ich lese auch alles.
Es gibt kein Genre, dass ich umkurve. Wie bei der Musik. Ich treffe immer wieder auf Menschen, die lesen keine Fiktion, nur Sachbücher. Für mich eine völlig indiskutable Vorstellung. Was für arme seelenlose Kreaturen. Oder nur Krimis. Das ist aber schon mal was. In guten Krimis kann man auch in viele Welten eintauchen, Perspektivwechsel durchführen, Menschen kennenlernen. Am Anfang des Jahres hatte ich eine Leseratte-Phase, die sich dann aber wieder mit einer Zeitungs/Magazinphase abwechselte. So gestaltet sich das oft bei mir. Ich glaube, ich möchte jetzt wieder mehr zur Leseratte werden, kann ja mit unserer Ratte Ralf im Garten einen Ratten-Lesekreis bilden. Hm…wie Nici das wohl sieht?
Meinen Blick wieder mehr auf das Literarische richten, mal sehen, was es bei mir auslöst. Das gibt bestimmt viel Futter für meinen Blog hier.
Gedichte zum Beispiel. In meinen 20ern und 30ern habe ich Gedichte verschlungen: Morrison, Bukowski, Brecht, Domin, Ausländer, Rilke, Benn, Goethe, um nur ein paar wenige zu nennen.
Ein paar (50?) eigene Versuche habe ich auch unternommen. Unfassbare Peinlichkeiten. Ich erinnere einen Abend, da las ich dem Erzeuger von Anna und Uli bei Kerzenschein meine Ergüsse vor. Eigentlich ist mir ja nichts peinlich. Manche Menschen können das bestätigen, vor allem Nicole: Es ist manchmal hart an der Schmerzgrenze und darüber hinaus, wenn ich in der City plötzlich auf Tourette in Kombination mit Spastik mache. Verehrte Straffzettelverteilerin, *Fickarschhure*, ich komme gleich wieder *Drecksmöpsensackgesicht*, ganz bestimmt, *Dummsaukackhenne*, zuck, zack, zuck...
Aber in der Replik ist mir dieser „eigene-Gedichte-Vorlese-Abend Anno 1995/1996 um ein Vielfaches peinlicher, als beim Einkaufen plötzlich laut *Eierpisskopffickblödnase“ zu schreien.
Ich hab mal wieder gekruschtelt, diesmal nicht im Gehirn, sondern bei Billy, dem Regal. Gefunden, eine gelbe Mappe, mit der Aufschrift "Abtippen". Ewigkeiten nicht mehr reingeschaut.
08.10.1992
Kein Titel
Der Tod ist hier.
Vor dir
Unmittelbar
Hinter dir
Du fragst dich!
Laufend!
Wo?
Ich sage dir!
Du kannst ihn greifen!
Nimm ihn an!
Und verschließe dich nicht vor ihm!
Du kannst ihm nicht entrinnen!
Ob Dein Haustier, diene Mutter oder dein bester Freund
Dich verlässt!
Es ist wichtig, weinen zu können!
A.S.
Krass! Hatte da schon Icke bei mir gewohnt? Hat mich da schon das Lymphom geboxt?
12.09.1991
Angst?!
Eigentlich habe ich keine Angst
Vor der Zukunft,
Wenn ich wüsste,
wie die Zukunft aussieht,
Eigentlich habe ich keine Angst
Vor dem Leben,
Wenn ich wüsste,
was Leben heißt.
Eigentlich habe ich keine Angst
Vor mir,
Wenn ich wüsste,
Wer es ist,
der ich bin.
A.S.
Peinlich peinlich, aber irgendwie auch cool und erschreckend zugleich, das nochmal hervorzukramen und zu lesen.
Heute weiß ich, dass ich ein liebender und geliebter Ehemann und Vater bin. Das kann mir keiner nehmen. Ich hab meine Rollen gefunden. Aber sonst? Das ist immer noch offen, denke ich. Hoffentlich?
Dann noch zwei professionelle Lieblinge. Ich habe vor Millionen Jahren ein Buch geführt, da habe ich handschriftlich Gedichte und Aphorismen reingeschrieben, die mir untergekommen sind. Vielleicht könnte es dann eine Übung für später sein, meine zittrigen Hände und womöglich neu entstehende Polyneuropathie ein wenig besser unter Kontrolle zu bringen. Gute Idee! Merken!
Ich bin ein Mensch; doch bild ich mir
nicht ein,
ich könnt im Dunkeln besser sehn
als Eulen,
ich könnte lauter als die Wölfe heulen
und könnte stärker als ein Löwe sein.
Ich bin ein Mensch; doch glaub‘ ich nicht,
ich sei
so glücklich wie Delphine, wenn
sie springen,
so selig wie die Möwen, wenn
sie singen,
auch nicht schnurrig wie ein Papagei.
Doch bin ich Mensch in ganz
besonderem Sinn.
Wenn Tiere schnurrig sind,
verspielt und heiter,
dann sind sie schnurrig,
heiter und nichts weiter.
Ich aber weiß es, wenn ich glücklich bin.
Was Tiere sind, das sind und bleiben sie.
Ein Wolf bleibt ein Wolf.
Ein Löwe bleibt ein Löwe.
Doch ich kann alles sein,
Delphin und Möwe.
Ich bin ein Mensch.
Ich habe Phantasie.
James Krüss
Die Welt hält tausend Zärtlichkeiten
für uns bereit,
denen man sich hingeben muss,
um zu erfahren,
was ihre Summe bedeutet.
Jean Giono
Gedichte sind kleine Wunderwerke. Sie können berühren, einen
packen und nicht über Jahre begleiten und nicht mehr loslassen. Und es bleibt einem immer der eigene Freiraum der Interpretation. Gedichte sind eigentlich so gesehen verschriftlichte Toleranz, da die Verfasser immer einen kleinen oder großen Spielraum offenlassen. Das mag ich.
Ich bin gerade so begeistert. Ich werde wieder mehr Gedichte lesen. Schreiben? Das lass ich lieber.
Bitte Wonderwoman verschaffe mir Zeit! Zeit für Gedichte. Manche sagen, mein Schreibstil hätte etwas von Lyrik: kurz, rhythmisch, prägnant mit zahlreichen Wortneuschöpfungen, Neologismen wie es der Profi ausdrückt. Muss bissel angeben, lesen ja schließlich auch Gymnasiallehrer*innen mit.
Ich belegte ein Seminar für freies Schreiben an der Uni. Die Aufgabe war einfach ein Tagesbericht abzuliefern. Ziel: Man sollte den Prof. zum Lachen bringen. Ich wählte einen kleinen Ausflug mit Anna im Baggy, der mich total geistig und körperlich überforderte. Mal wieder. Die Bewertung des Profs: wild, schräg, seltsam, aber sie haben mich tatsächlich zum Lachen gebracht, Herr Schnur. Ich war stolz wie Bolle und bin noch mehrere Tage über den Campus und über Stühle geflogen.
Ich habe mir die aktuelle Bestsellerliste angeschaut. Die kann ich eigentlich in der Regel auswendig. Man erkennt unsere heikle Situation daran, dass das gerade nicht der Fall ist. Ich wollte eben nur „meine“ schreiben, aber das kann ich so nicht. Es ist eine UNSERE-Situation.
Da hat man es wieder das Lyrische. Ein Wort, eine Welt. Ein weiteres Seminar an der Uni. Dafür hätte man Eintritt verlangen können. Kam leider nicht oft vor. Die berühmte Todesfuge mit dem berühmten Vers „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“. Erinnerungskultur-abschaff-Höcke würde ich dieses schockierende Gedicht aufessen lassen. Jedes Wort einzeln. Und Fliegenschiss-Gauland müsste dann das Erbrochene seines Statthalters vom Boden auflecken.
Wo war ich? Ach ja! UNSERE heikle Situation. Mein Lymphom hat Einfluss auf so viele Menschen. Nici will ich hier an erster Stelle nennen. Sie muss mit mir zusammen unser wunderbares Leben vollkommen auf den Kopf stellen. Machen wir uns nichts vor: ALLES wird anders werden.
UNSER Wohnen wird sich verändern. Wir müssen das Gästezimmer, das sich neben dem Bad mit Klo befindet, beziehen. Treppen werden mühselig für mich sein. Das 28.-malige Rauspissen des Atommülls aus dem Endlager muss mitgedacht werden. 9 Jahre haben wir mit der Ausnahme von 5 Wochen keine Nacht ohneeinander verbracht. Wir brauchen uns nicht nur am Tag, sondern ganz besonders auch in der Nacht. Wir schlafen nicht gut, ist der andere nicht da.
Die Möglichkeit, den anderen zu spüren, beruhigt den unruhigen eigenen Geist. Es wird Nächte geben, da wird das gemeinsame Schlafen unmöglich werden. Wenn ich die Neulasta-Spritze erhalte, werde ich in jeder Pore meines Körpers die Produktion von Leukozyten wahrnehmen. Das verursacht Schmerzen und wird mich nicht schlafen lassen. Es werden diesmal zwei Menschen leiden, nicht nur einer. Ihr Unwissenden denkt immer: Hey Schnur, du schaffst das schon. WIR müssen das schaffen. WIR müssen die Schlacht gewinnen. Pflanzen müssen raus, kein frisches Beerenobst, ich muss die Sonne meiden. Es wird einen Tag geben, da werde ich für eine ziemlich lange Zeit meinen letzten Wein zu mir nehmen. Fuck-you-Cancer würde auf entzündete Schleimhäute und offenen Stellen im Mund treffen und mich in die Hölle der Katholiken katapultieren. Nici, Icke und ich keinen Wein mehr zusammen? Unsere Art das Leben zu genießen, vorbei!? Bitte denkt bei jedem eurer leckeren Tropfen an uns. Und an euer elitär geführtes Leben. Wir werden demnächst ein Leben ohne Süchte führen. Ein Leben ohne Rieslingschole! Wie armselig ist das denn.
Anna und Uli. Auch sie werden Einschnitte erleben. Auch sie haben schlaflose Nächte. Jetzt schon. Anna wird nun versuchen, öfter bei ihrem Paps zu sein und das in der entscheiden Phase des Studiums. Uli wird Behandlungsmethoden mitdenken und genauso zweifeln wie wir. Sie muss unser Kind in traurigen Stunden auffangen. Sie muss Stärke zeigen, die vielleicht aufgebraucht ist. Chris, ihr Freund, ein wunderbarer anständiger Mensch, muss mehr denn je für viele da sein. Wir müssen alle an unsere Grenzen gehen und evtl. weit darüber hinaus. Das hier aufzuschreiben, schmerzt mich so unendlich, dass ich weinend hier um 02.26 Uhr neben Nici liege und ich eine krankmachende Schuld verspüre, den Menschen, die mir lieb und teuer sind, das alles antun zu müssen. Nicht mal das verficktbeschissenekack Lymphom könnte mir derart Schmerzen zufügen. Eine E-Mail, EINE verdammte E-Mail wird in unser aller Leben tiefe Spuren hinterlassen. Nach meinem Rodeo-Ritt wird mein Körper mit Narben überseht sein. Ein anderer zu sein, der ich jetzt bin, das werde ich wegstecken. Aber die seelischen Narben, das mein Dasein einen so großen - negativen - Einfluss auf andere hat, da weiß ich nicht, ob ich das verarbeitet bekomme. Ich schaffe viel, aber doch nicht alles. Auch HULK legt sich mal schlafen. Keiner schafft alles! Ich weiß, dass ich optimistisch bleiben muss, das ist richtig. Humor hilft schließlich heilen. Ich mache mit. Doch ihr Unwissenden hört: Nicht ihr gebt mir diesen Rat laufend, sondern euch selbst. Wir schützen uns alle mit dem Quatsch vorm Durchdrehen und Ausrasten. Die Wunden, die Seelenqualen will keiner wahrnehmen und sehen. Wir Westler wollen Menschen nicht leiden, sterben, aufgeben sehen, das ertragen wir nicht. Wettkampf jeden Tag. Das passt nicht in unser perfektes Leben. Wir wollen nicht die Oberfläche beschädigen. Das Monster „die Angst“ könnte ja zum Vorschein kommen. Ich greife nicht zum Hörer und rufe Alex an, ich schicke Icke keine Nachricht, die Angst könnte in mir hochkriechen. Lieber schweige ich! Auch ich halte es wie der berühmte dänische Philosoph Kierkegaard (einer meiner Lieblingsphilosophen): Ohne Angst keine Freiheit - oder - Wir brauchen die Angst, sonst lernen wir nichts.
Lasst uns an der Oberfläche kratzen! Das ist mein Auftrag jetzt: Ich zeige euch meine Wunden, meine Ängste, dann heile ich mich und euch gleich dazu. Einmal Lehrer, immer Lehrer.