Seit langer Zeit sehr gut geschlafen. So einen Allerweltssatz darf man morgens im Hause Schnur nicht unbedacht aussprechen, sonst heißt es: Prima Schatz, dann kannst heute DU ja den Kaff holen. Der feste Tonfall meiner lieben Ehefrau und meine mangelnde Widerstandsbereitschaft, ließ mich diesmal nicht die Krebsentschuldigunsnummer aus der Schublade holen. Ich bereitete mich also sogleich auf einen langen Hinkemarsch in die Küche vor. Zuerst ließ ich Schulter und Nacken 12x kreisen. An die Knackgeräusche habe ich mich ab 50 gewöhnt. Sie erinnern an ein blockiertes Kugellager oder an Bruce Lee, der einem mit einem einzigen Griff das Genick bricht. Habe ich Bruce-Lee-Filme geliebt. Ich stellte vor dem Spiegel immer die verschiedene Karatefiguren nach. Nein, so ein alten Karate-Schinken aus den 80ern kann ich Nici tatsächlich nicht zumuten. Krebs hin oder her! Wenn Nicole meine Knackgeräusche vernimmt, dann sieht sie regelrecht - muss kurz nach einem passenden Wort kramen - „schockiert“ aus! Ja schockiert trifft’s. Nach einem weiteren Schulterknacken rechts (die ist gerade echt extrem Mus) und ein langes ausführliches Strecken, stellte ich erstmal meine Füße auf die Holzdielen, überlegte kurz ob ich sie fotografieren sollte, und wippte meine scharfe Lende mehrmals von hinten nach vorne. Als mein junger Physio und Namensvetter (Nein, nicht Quasimodo!) mir die Übung zeigte, mussten wir beide grinsen. Ich jetzt auch wieder. Es fasziniert mich immer, dass beim Wippen mein rechter Meniskus zwickt und sticht. Schon irre, wie im menschlichen Körper eines bald 52-Jährigen alles zusammenzuhängen scheint. Noch ein letzter Griff an den Boppel in der rechten Leiste...noch da, aber nicht explodiert. Dieser Griff ist jetzt immer Schrecken und Erlösung zugleich. Ich erhob mich und prüfte mein Knochengestell wie ein Ski-Rennfahrer seine Ausrüstung. Das Technikteam hat gute Arbeit geleistet. Nun das bange Warten wie das IS-Gelenk auf die Prüfung reagieren wird. Ist immer wieder eine Überraschung. Oh Juhee, es sitzt! Ich konnte nun ohne groß zu hinken und zu stolpern vom Basiscamp am Mont Everest absteigen. Noch ein Abschiedskuss: man kann ja nie wissen!
Mission erfolgreich gemeistert.
Ein fantastischer Red-Hot-Chili-Peppers-Tag wartet auf uns! Yeah, Baby!
Ein Livekonzert der RHCP im Hyde Park wäre mir zwar lieber gewesen, aber Otherside und Road Trippin‘ aus der Anlage im Auto bei strahlendem Sonnenschein und offenem Schiebedach war jetzt auch nicht so verkehrt. Wie passende Liedzeilen: „how long, how long will i slide“ oder „let us drink the stars, it's time to steal away...let‘s go get lost“. Plötzlich wird der Text viel wichtiger als die Musik und bringt einem beim Grooven gewaltig zum Nachdenken.
Intensive Zweisamkeit mit Gesprächen, Schweigen, Tränen und gegenseitigem Halt. Schorle darf da natürlich auch nicht fehlen. Wenn dein Ehepartner gleichzeitig dein bester Freund ist, dann gibt es keine Glückssteigerung mehr. Die Natur beruhigt uns. Ganz besonders mich. Zuhause kommt mein Hirn nicht zu Ruhe. Schreiben beruhigt mich auch, stimuliert aber mein Stammhirn so dermaßen, dass man sich wie eine Murmel in einer unendlichen Kugelbahn fühlt, ohne Rampenausgang. Aber es lenkt ab. In der Natur ist das anders: Da fühle ich plötzlich: Alles hat einen Sinn, alles ordnet sich hier neben dem uralten Baum dem großen Ganzen unter. Mein eigener Tod wird hier nicht mehr wichtig. Ich möchte gern über den Wachtfelsen verstreut werden. Leider ist das in unserem Land nicht möglich. Sehr schade wie ich finde. Aber ich werde mir dazu noch einige Gedanken machen. Dann wird für mich alles rund. Auf diesem Felsen habe ich sitzend Nicole einen Heiratsantrag gemacht. Die zweitbeste Entscheidung meines Lebens. Ich war aufgeregt wie ein kleiner Schuljunge, habe tagelang das Event im Kopf geplant, und dann habe ich die Worte doch nicht gefunden und rausgestottert, rausgestammelt, wie früher, wenn mich meine doofe Lehrerin in Grundschule aufgerufen hat.
Die beste Entscheidung? Nicht fortzurennen und Anna zu lieben, wie mein eigenes Kind. So sehr! Von dem Zeitpunkt an, als ich die Nabelschnur in Freiburg durchtrennte und in ihre wunderschönen Augen blicken durfte, war es um mich geschehen. Leute die sagten: Warum kümmerst du dich um das Kind überhaupt, ist doch nicht deins, könnte ich heute noch töten. Es ist unglaublich wie Menschen in ihrem Denken verkrustet und vernarbt sind. Es zählt nur das eigene verabreichte Sperma, so ein Bullshit! Deswegen gefällt mir Grey`s Anatomy so gut, weil da so viele Kinder adoptiert werden und sich alle lieb haben.
Das Todesurteil kann gerne noch auf sich warten lassen, um weiterhin für alle, die mir wichtig sind, da zu sein. Es muss auch nicht mein IS-Gelenk unbedingt sofort ausgetauscht werden. Das soll einer verstehen, heute scheint es wieder so zu funktionieren wie eben ein Gelenk funktionieren sollte, vor allem ohne Schmerzen zu verursachen. Ich empfinde mich heute nur als Quasi, ohne modo. Aber morgen kann das schon wieder ganz anders sein. Das macht mich langsam auch mürbe. Aber jetzt gehts erstmal um Krebs, man kann ja nicht gleich alle 3 Wünsche auf einmal verbrauchen.
Anruf Heidelberg auf dem Schillerfelsen. Nici darf am Freitag mit zum Befundgespräch. Hurrah! Anna nicht. Hier kann leider keine Ausnahme gemacht werden. Corona zerstört nicht nur die Lunge, sondern auch das Menschliche in uns. Die Pandemie als Soziale Frage! Kompromiss: Zuschaltung per Handy. Mal sehen, ob wir das so machen werden. Es wäre mir wichtig, meine Anna dabei zu haben; sie hätte einen positiven Einfluss auf mich, wenn ich ohne Maske Geiseln nehme oder vom Hubschrauberplatz wegfliegen möchte.
Nicole und ich haben verschiedene Optionen angedacht, durchdacht, besprochen und für blöd befunden.
Option 1: Konten räumen, rein in ein Camper und weg. (Feststellung: Wir sind keine Camper!)
Option 2: Konten räumen, Rucksack packen und ab nach Neuseeland. (Huuuh, das ist ziemlich weit weg, aber Corona frei. Open-Air-Konzert mit 50000 Besuchern – unvorstellbar!)
Option 3: Ferienwohnung auf Kreta, Madeira, an der Costa Brava, auf Korsika oder egal wo, Hauptsache warm und wandern möglich.
(Kurioserweise kam heute eine WhatsApp der Witwe meines an Lungenkrebs verstorbenen Bruders (54!) mit einem Angebot rein. Er war Immobilienmakler in Valencia. Aber so ein Teil, das man in
spanischen Supermärkten oft vorfindet. Man muss wissen, dass mein Bruder zweimal im Knast war, einmal in Stammheim (mit fast 18, bewaffneter Raubüberfall auf einen Tante-Emma Laden,
Drogenprobleme) und einmal in Venezuela (mit? 35, wieder Drogenprobleme). Was bleibt da einem also anderes übrig als Immobilien zu verchecken und Kette zu rauchen!)
Option 4: Augen zu und durch: hoffen, beten, heilen, bis zum guten (?) Ende!
(Gegenargument: Ich will verdammt nochmal nicht wieder aussehen wie ein Wackelpudding!)
Vielleicht tun sich die nächsten Tage ja noch weitere Optionen auf. Wir nehmen auch Vorschläge entgegen.
Austausch über Schule mit hoch geschätzter Kollegin per WhatsApp. Sinnfragen kann einer nur verstehen, wer sich selbst Sinnfragen stellt. Leider hat man man da nur wenige in der Schule, geeignete Ansprechpartner sind. Es tut gut, wenigstens ein wenig gemeinsam in einem Boot zu sitzen. Feststellung: Immer schön Kopf oben behalten, das hilft beim Untergehen.
Nochmal zugesandter Uralt-Schlemmerboysbericht gelesen. Ja, vor 1000 Jahren haben wir uns da zu Neustadt im Esszimmer getroffen und geschlemmt. Unser Credo: abwechselnd ein gutes Restaurant in der Region raussuchen und wie Könige in der Pfalz schlemmen. Einer hat immer nichts getrunken, einer ein wenig, einer etwas mehr und einer ganz viel. Es war immer nett, aber meistens ging es um das kulinarische Oeuvre oder das zähe Ringen einer guten Schule, aber nicht um uns. Das habe ich zwar bedauert, aber nicht als schlimm empfunden. Dafür war das Essen und der Wein einfach zu gut. Der Bericht hat mir ein Kollege geschickt, der (als Mathelehrer!) noch besser schreiben kann als ich, bezogen auf Restaurantkritiken. Ich glaube psychologisierende Selbtreinigungsblogs mit dem Thema Vergänglichkeit liegen ihm nicht so. Ein sprachgewaltiger lustiger Mann. Der plötzlich ganz sprachlos wurde und litt wie ein misshandelter Straßenköter. Am Gang konnte man das Mitleiden ablesen. Eine stille Geste hat mich aber immer berührt: das Hinstrecken der geballten Faust. Manchmal braucht es nicht mehr: der traurige Blick und die Faust. Irgendwie gehören diese zwei Dinge in meinem Leben gerade zusammen.
Auch ein In-den-Arm-nehmen einer überraschend empathischen Englischlehrerin werde ich in Erinnerung behalten. Corona bedingt nicht ganz spontan, aber dennoch sehr herzlich. Es sind Gesten, nicht Worte, die nachhallen. Für manche sind Berührungen der reinste Horror, und damit hat Covid19 ausnahmsweise mal nichts damit zu tun, das muss man tolerieren lernen. Schade! Manchmal sind es auch Kleeblätter oder blaue Schmetterlinge, die man per WhatsApp erhält. Ja blaue Schmetterlinge (3!!!), von einem Biker und Metallica-Fan. Sachen gibt’s. Nicht lange her und er hätte mir eher Totenköpfe geschickt. Was aus einem die entfesselte neue Liebe alles machen kann. Respekt! Früher hat er mich bei Wanderungen oder Montainbike-Touren (kann man eigentlich nicht so nennen, mich hat`s eigentlich meistens hingelegt) immer nachgeäfft: Oh Schnur, scheint mal wieder die Sonne soooo schööön! Ja, so schööön! Nicht, dass wir gemeinsame Drogenerfahrungen gesammelt hätten und nackt ums Lagerfeuer getanzt wären. Ich schon, aber er nicht. Biker und Metaller (bitte nicht zu verwechseln mit IG-Metaller, habe gehört Rentner und Sozialdemokraten lesen auch meinen Blog) können dich immer wieder sehr überraschen. Wenn ich in den letzten Zügen liege, hätte ich ihn gern im Raum, einer von wenigen. Er dürfte dann das Fenster aufmachen und Nothing Else Matters per Spotify abspielen. Ein schöner Gedanke!
Nun bin ich erschöpft. Ein langer Tag. Keine Schule und doch voll mit Kram. Schöner intensiver Kram. Klar würde ich den Schulbesuch eintauschen gegen einen Befund, der mich durchatmen lässt, sofort. Aber ich wäre auch traurig, weil man weniger bewusster lebt und die Menschen um einen herum wieder ihr Bewusstsein verloren hätten. Ich kann nicht sagen, dass die letzten 9 Jahre von Nici und mir nicht mit offenen Augen und allen Sinnen durchschritten worden wären. Weiß Gott nicht! Unsere 9 Jahre zählen doppelt, haben wir heute festgestellt, also sind Nici und ich eigentlich schon 18 Jahre zusammen. Wir waren vielleicht 5 Wochen getrennt, wenn es hochkommt. Wir haben so unendlich viel verrücktes schönes Zeug miteinander erlebt. Ich könnte heute anfangen zu schreiben und wäre in 9 Jahre noch nicht fertig damit. Unendlicher Stoff für den nächsten Blog garantiert. Ein Reiseblog? Mit viel Wein statt Rum, einer Veranda, aber keine Schrotflinte im Anschlag.
Wollt ihr die passende Musik zu diesem Blogeintrag, dann hört euch die neue Kaleo an. Jedes Lied so verdammt geil! Und nach dem Ende die anderen Songs einfach weiterlaufen lassen.
RHCP geht natürlich auch.
Supermond ich komme!
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